MÜNSTER! Magazin

Ob allein oder zu zweit: In der Rikscha können sich Seniorinnen und Senioren entspannt zurücklehnen und die Stadt mit Wind im Haar (neu) entdecken. Foto: Chance e.V. 

N°136


Mit der Rikscha durch den Dom

Durch die Stadt zu radeln, ist für viele Münsteranerinnen und Münsteraner ein hochgeschätzter Bestandteil des Alltags. Wenn das Alter oder andere Umstände die Mobilität im Sattel einschränken, schwindet für viele auch ein Stück Lebensqualität. Doch die Initiative „Radeln ohne Alter“ bringt Seniorinnen und Senioren „back on the road“! 

Text lotta krüger


Ein lebenslanges Recht auf Wind im Haar – das ist das Motto des Projekts „Radeln ohne Alter“. Denn was für ein schönes Gefühl es ist, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren, während man mit Blick auf den Dom oder Aasee auf dem Rad durch die Stadt gleitet, wissen die allermeisten Münsteranerinnen und Münsteraner nur allzu gut. Doch nicht allen ist dieses Glück zugänglich: Unter Seniorinnen und Senioren, die sich nicht mehr sicher im Sattel fühlen, und Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen gibt es viele, die den Wind im Haar vermissen – genau wie die gesellschaftliche Teilhabe, die durch die fehlende Mobilität oft schwindet.

Um diesen Menschen ein Stück Lebensqualität (zurück) zu geben und sie vor der sozialen Isolation zu bewahren, rief der münstersche Verein Chance e.V. im Jahr 2018 nach dem Vorbild ähnlicher Projekte in Berlin und Kopenhagen die Initiative „Radeln ohne Alter“ ins Leben. Seitdem können Menschen mit eingeschränkter Mobilität sich in Rikschas durch die Stadt kutschieren lassen und bei einer frischen Brise um die Nase Münsters schönste Seiten (neu) entdecken. Doch die Initiative entstand nicht nur, um jenen etwas Gutes zu tun, die vorn in den Rikschas Platz nehmen dürfen, sondern auch denen, die hinten sitzen und fleißig in die Pedalen treten: Bei den Fahrerinnen und Fahrern handelt es sich um langzeitarbeitslose Menschen, die durch das Projekt wertvolle Erfahrungen sammeln, ihre Kompetenzen stärken und neue Kontakte knüpfen können. Neben Beratung und Unterstützung bei der Jobsuche ist das Rikschafahren ein weiterer Hebel, mit dem der Verein Chance e.V. die berufliche Integration der Langzeitarbeitslosen fördern und sie behutsam zurück an den Arbeitsmarkt führen möchte. Die Teilnehmenden werden in der Bedienung der Rikschas ebenso geschult wie im Umgang mit Seniorinnen und Senioren und Menschen mit Beeinträchtigung – und lernen durch das Durchführen der Touren, wieder Verantwortung zu übernehmen. So wird „Radeln ohne Alter“ zu einem generationenübergreifenden Projekt, das gegenseitige Wertschätzung, Verständnis und Toleranz fördert – zwischen zwei Gruppen, die sonst wenig Berührungspunkte miteinander haben und in unserer Gesellschaft oft nicht genug Beachtung finden. „ ,Radeln ohne Alter‘ ist das beste Beispiel dafür, wie einfach es sein kann, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun und gleichzeitig das eigene Leben zu bereichern“, findet Tobias Sander, der das Projekt in Münster leitet.

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Foto: Chance e.V.
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Tobias Sander, Projektleiter „Radeln ohne Alter“ Foto: Chance e.V.

„ ,Radeln ohne Alter‘ ist das beste Beispiel dafür, wie  einfach es sein kann, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun und gleichzeitig das eigene Leben zu bereichern.“ 

Tobias Sander, Projektleiter „Radeln ohne Alter“

Der Weg ist das Ziel 

Und so läuft das Ganze ab: Die Rikscha-Touren finden in der Regel das ganze Jahr über einmal täglich von montags bis freitags statt. Projektleiter Tobias Sander entwickelte einen „Fahrplan“ mit einigen von Münsters Altersheimen, von denen jedes einmal pro Monat angesteuert wird. In den Einrichtungen sammeln die Rikscha-Fahrerinnen und -Fahrer ihre Gäste ein und entscheiden gemeinsam, wohin es gehen soll. „Die Ideen und Wünsche der Mitfahrenden versuchen wir in der Routenplanung immer mit aufzunehmen“, so Tobias. Das berichtet auch Hamza (wir folgen dem Wunsch nach Diskretion und nennen hier nur die Vornamen), der seit einem Jahr als Fahrer dabei ist. „Oft nennen unsere Fahrgäste bestimmte Orte, die sie gerne anfahren würden. Wir basteln dann eine schöne Route, bei der alle auf ihre Kosten kommen.“ Hamza lebt seit 2017 in Deutschland, nachdem er aus seinem Heimatland Syrien flüchten musste. „Ich hatte dort ein gutes Leben als selbstständiger Autoverkäufer, aber der Krieg hat alles zerstört“, berichtet er. In Deutschland angekommen, war vieles neu und fremd: die Sprache, die Kultur, die Arbeitswelt. Als die Jobsuche sich schwierig gestaltete und Hamza von „Radeln ohne Alter“ hörte, meldete er sich als Fahrer an. Auch hier war die Sprachbarriere zunächst eine Herausforderung, ebenso wie die ungewohnte körperliche Belastung des Rikscha-Fahrens, aber Hamza fand schnell Freude an seiner neuen Aufgabe. „Es ist toll, mit den Teilnehmenden zu plaudern und ihnen dabei zu helfen, unsere schöne Stadt weiterhin erleben zu können – und ganz nebenbei verbessere ich durch die Touren auch mein Deutsch!“ Die Möglichkeit, endlich wieder zu arbeiten und diese Tätigkeit mit etwas Sozialem zu verbinden, ist für Hamza ein großes Geschenk – genau wie für die Seniorinnen und Senioren, die er umherfährt.

„Die Ideen und Wünsche der Mitfahrenden versuchen wir in der Routenplanung immer mit aufzunehmen.“ 

Tobias Sander, Projektleiter

Doch worüber unterhalten sich die Fahrerinnen und Fahrer und ihre Gäste, zwischen denen oft viele Jahrzehnte Altersunterschied liegen? „Wir plaudern über alles, was uns gerade in den Sinn kommt – einen festen Gesprächsleitfaden gibt es nicht“, berichtet Michel, ein weiterer Fahrer von „Radeln ohne Alter“. Häufig gehe es natürlich um die Stadt Münster und darum, welche Orte den Seniorinnen und Senioren besonders viel bedeuten oder welche Erinnerungen sie in ihnen wecken. Auch persönliche Themen wie Familie, Freundschaften und Hobbys kommen immer wieder auf.  

„Eine ältere Dame, die anfangs noch sehr zurückhaltend war, hat mir eines Tages von ihren Erlebnissen im Krieg erzählt, das hat mich unglaublich berührt“, erzählt Michel, der es als große Bereicherung empfindet, die Lebensgeschichten seiner Fahrgäste kennenzulernen. Neben bewegenden Momenten bieten die Touren durch die Stadt auch lustige Erlebnisse. „Es ist immer wieder toll zu sehen, wie viel Lebensfreude die Menschen trotz ihres Alters oder ihrer Beeinträchtigung haben!“ Es gebe aber auch Tage, an denen die Seniorinnen und Senioren die Fahrt lieber still genießen wollen – was ebenfalls völlig in Ordnung ist. Am Ende der Touren werden die Fahrerinnen und Fahrer von den Altersheimen oft noch auf Kaffee und Kuchen eingeladen – ein schöner Tagesabschluss und die verdiente Erholung für die müden Beine. Doch die größte Belohnung ist die Dankbarkeit und das Strahlen in den Augen der Fahrgäste, da sind sich die fleißigen Radlerinnen und Radler einig. 

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Foto: Chance e.V.
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Münster aus einer neuen Perspektive entdecken – das ermöglicht „Radeln ohne Alter“ Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Foto: Chance e.V.

„Es ist toll, mit den Teilnehmenden zu plaudern und ihnen dabei zu helfen, unsere schöne Stadt weiterhin erleben zu können.“ 

Hamza, Rikscha-Fahrer

Perspektivwechsel für alle 

Bis zu 60 Gäste, die meisten davon zwischen 70 und 90 Jahre alt, werden jede Woche von den Rikschas abgeholt und genießen auf den Touren eine willkommene Abwechslung von ihrem Alltag im Heim. Eine davon ist Gertrud, die schon viele Touren in der Rikscha hinter sich hat. Aufmerksam wurde die 87-Jährige auf das Angebot von „Radeln ohne Alter“ über den Wochenplan in ihrem Altersheim. „Am Anfang war ich unsicher, ob das überhaupt etwas für mich ist. Aber bei der ersten Tour habe ich sofort gemerkt, wie viel Spaß es macht!“ Seitdem versucht sie, so oft wie möglich einen Platz in einer der Rikschas zu ergattern – die Nachfrage ist in ihrem Heim jedoch so hoch, dass sie manchmal nur bei jeder zweiten Tour dabei sein kann. Auf die Frage nach ihrer Lieblingsroute muss Gertrud keinen Moment überlegen: „Es gibt eine Tour durch die Innenstadt, bei der wir mit der Rikscha durch den Dom fahren. Dass ich diese wunderschöne Kirche in meinem Alter nochmal von innen sehen kann, hätte ich nicht für möglich gehalten“, schwärmt die Seniorin. Aber auch die Touren, die am Kanal oder Aasee entlang führen, seien ein besonderes Erlebnis. Die Möglichkeit, sich ohne Anstrengung durch die Stadt chauffieren zu lassen, findet Gertrud großartig. „Und die Perspektive, die man vorne in der Rikscha hat, ist einmalig – da entdeckt man die Stadt auf ganz neue Art und Weise!“ 

Um diese besondere Perspektive einem breiteren Publikum zu ermöglichen, erwuchs 2022 aus „Radeln ohne Alter“, das es inzwischen an über 100 Standorten in ganz Deutschland gibt, ein weiteres Projekt in Münster: Wegen der großen Resonanz und des vielfach geäußerten Wunsches nach privaten Rikscha-Touren riefen Tobias Sander und sein Team von  toeftetouren.de ins Leben. In dem Projekt finden die ehemaligen Fahrerinnen und Fahrer von „Radeln ohne Alter“ eine Anschluss-Perspektive und können ihre Erfahrung nutzen, um auch anderen Interessierten Rikscha-Touren in und um Münster anzubieten. So können einige der langzeitarbeitslosen Menschen langfristig beschäftigt werden und zurück in ein selbstbestimmtes Berufsleben finden. Und die „töften Touren“ kommen gut an. Denn auch ohne körperliche Beeinträchtigung kann es (wie auch die Kundinnen und Kunden von Münsters Rikschaservice Leezen Heroes wissen), sehr schön sein, sich bei der Fahrt durch die Stadt einfach mal zurückzulehnen – und ganz entspannt den Wind im Haar zu genießen. 

„Es gibt eine Tour durch die Innenstadt, bei der wir mit der Rikscha durch den Dom fahren. Dass ich diese wunderschöne Kirche in meinem Alter nochmal von innen sehen kann, hätte ich nicht für möglich gehalten.“ 

Gertrud, Teilnehmerin
 

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Zum Schloss, über den Prinzipalmarkt oder um den Aasee herum – wohin die Fahrt gehen soll, bestimmen die Fahrerinnen und Fahrer gemeinsam mit ihren betagten Gästen. Foto: Chance e.V.