N°141
Berufswunsch: Papst.
Berufung: Schulseelsorger
Welche Sorgen und Nöte plagen junge Menschen? Damit beschäftigt sich Stephan Orth, der neue Schulseelsorger am Kardinal-von-Galen-Gymnasium in Hiltrup. Im Interview spricht der 32-Jährige darüber, warum er bei seiner Arbeit auf Gottesdienste und Mario Kart setzt – und sich eigentlich als Kellner sieht.
Text MONA CONTZEN
MÜNSTER!: Herr Orth, Sie sind 32 Jahre alt und wieder in der Schule – als Schulseelsorger am Kardinal-von-Galen- Gymnasium in Hiltrup. Dabei waren Sie als junger Mensch eigentlich froh darüber, die Schule hinter sich zu lassen. Warum?
Stephan Orth: Es gibt in der Schule ja Lehrerpersönlichkeiten und Situationen, die nicht nur schön sind. Dazu gehört das Gefühl, unfair benotet zu werden oder nicht dazuzugehören. Als Schüler war ich ein bisschen eigenwillig, und mein Berufswunsch in der fünften Klasse war, Papst zu werden. Vielleicht kann man das als katholische Variante vom Astronauten sehen. Jedenfalls haben sich da ganz viele Mitschüler natürlich drüber lustig gemacht. Für mich war das in dem Alter nicht einfach, ich wollte ja ernst genommen werden. Es gibt in der Schule einfach Situationen, in denen man das Gefühl hat, man wird nicht so gesehen, wie man ist, sondern muss sich anpassen. Für mich war es deshalb erstmal die große Freiheit, aus dem System Schule raus zu sein.
M!: Unterscheiden sich Ihre Erfahrungen von damals, von denen, die Schülerinnen und Schüler heute in der Schule machen?
Es gibt mittlerweile pädagogische und didaktische Konzepte, mit denen man versucht, den Schülern gerechter zu werden, sich mehr auf ihre Lebenswirklichkeit einzulassen. Aber der Leistungsdruck wird ja nicht weniger. Viele Schülerinnen und Schüler glauben, wenn sie kein Abi machen, werden sie Menschen zweiter Klasse sein. Es müssen also Kompromisse gefunden werden zwischen der Leistungsbewertung auf der einen und der Persönlichkeitsentwicklung auf der anderen Seite. Als Schulseelsorger bin ich in einer besseren Position als die Lehrkräfte, weil ich die Schülerinnen und Schüler nicht bewerten muss, sondern sie annehmen kann, wie sie sind. Das ist wichtig, weil Schulen eben nicht nur Lehranstalten, sondern auch Lebensorte sind.
M! Vergleichsweise neu ist der Druck, den die Sozialen Medien erzeugen. Mobbing ist an der Tagesordnung, die Verbreitung von Gewaltdarstellungen und Pornografie ist leichter als je zuvor. Welche Rolle spielt Social Media bei den Sorgen und Nöten der Jugend?
Ich glaube, Social Media ist erstmal mehr ein Thema für die Begleiter als für die Schülerinnen und Schüler. Was dort stattfindet, ist ein Spiegel dessen, was auch in der analogen Realität stattfindet: Ausgrenzung, Mobbing. Aber viele Jugendliche nehmen Social Media erst als Problem wahr, wenn sie plötzlich betroffen sind. Eltern und Lehrkräfte können versuchen, Medienkompetenz zu vermitteln und die Kinder besonders zu schützen – aber sie stecken eben nicht überall mit drin.
M!: Welche Themen beschäftigen junge Menschen denn am meisten?
Angesichts von Kriegen, Kulturkampf und wirtschaftlichen Problemen stehen wir aktuell ja vor vielen großen Herausforderungen. Der Ukraine-Konflikt zum Beispiel ist sehr lebendig für die Schüler. Sie haben Mitschüler, die direkt betroffen sind, und die von ihren Verwandten, von ihren Erlebnissen erzählen – dadurch wird das sehr greifbar. Wenn eine Elfjährige sagt, es sei wichtig, dass man aufeinander Acht gibt, damit solche Dinge wie in der Ukraine oder in Israel nicht passieren, dann merkt man: Kinder betrifft das emotional.
Bei den älteren Jahrgängen gibt es Fragen wie: Wo finden wir einen Job? Sie merken, dass die Gesellschaft älter wird und fragen sich: Wie ist das zu finanzieren? Sie sehen, dass die Menschen über 50 in Deutschland einen Großteil der Wählerschaft ausmachen und wollen wissen: Was ist meine Stimme wert? Wo ist die Perspektive der Jugend? Sie haben das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.
M!: Vor allem während und nach der Corona-Pandemie haben viele junge Menschen darüber geklagt, dass ihre Bedürfnisse nicht gehört werden. Haben Sie den Eindruck, dieses Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, beschreibt die Realität ganz gut?
Die Perspektive von Kindern und Jugendlichen wird an so vielen Stellen immer noch viel zu wenig beachtet. Die Initiatve Fridays for future zum Beispiel wurde lange nicht ernst genommen, auch von der Lokalpolitik in Münster wurde viel polemisiert. Ausdrücke wie „Schulschwänzer“ und Co. sind da gefallen. In Dinslaken, wo ich das erste Mal unterrichten durfte, habe ich Kinder erlebt, die sich während der Pandemie ein bis zwei Jahre lang nicht in der Gruppe mit Gleichaltrigen treffen konnten und die in ihrer psychosozialen Entwicklung ganz viel nicht erlebt hatten. Und wenn man sich anschaut, wie wenig Geld vergleichsweise in die Kinder- und Jugendarbeit fließt, ist das ein Witz. Die jungen Leute treffen sich ja nicht umsonst am Aasee – für sie werden kaum Räume geschaffen, für die sie kein Geld brauchen. Altersdiskriminierung gibt es nicht nur nach oben. Ganz viele junge Menschen sind dankbar, wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet und sie ernst nimmt und nicht von oben herab behandelt.
M!: Apropos Fridays for future: Lange hatte man den Eindruck, viele junge Menschen fühlen sich vom Klimawandel existenziell bedroht. Doch die Bewegung hat an Kraft verloren. Wird die Klimakrise für Schülerinnen und Schüler mittlerweile von anderen Problemen überlagert?
Ich glaube, viele junge Menschen haben erkannt, dass es gut ist, laut auf die Straße zu gehen. Aber sie sehen keine unmittelbaren Ergebnisse. Bei der Grünen Jugend sind massenweise Leute aus irgendwelchen Vorständen zurückgetreten, weil sie das Gefühl haben: In der Politik tut sich nichts – das frustriert natürlich. Gleichzeitig ist der Kompromiss Teil der Demokratie. Ich glaube nicht, dass den Schülerinnen und Schülern das Thema egal ist, aber es gibt in der Wahrnehmung gerade andere Dinge, die dringlicher sind. Wenn mir die Eltern zum Beispiel, die wegen der Inflation weniger Geld zur Verfügung haben, meine Hobbys kürzen, dann trifft mich das unmittelbar.
M!: Bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland haben viele junge Menschen ihr Kreuz bei der AfD gemacht. Schülervertreter und Lehrkräfte berichten von zunehmendem Rassismus an Schulen. Wie erleben Sie das in Münster: Gibt es auch hier einen Rechtsruck unter Schülerinnen und Schülern?
Alltagsrassismus gibt es überall, wir können uns alle nicht davon freisprechen. Was ich hier in Münster und speziell im System Schule wahrnehme, ist aber eher kultureller als ethnischer Rassismus: eine Art Kulturkampf. Das traditionelle Familienbild gegen sexuelle Vielfalt, traditionelle Geschlechterrollen. Jungs zum Beispiel nehmen sich Youtuber zum Vorbild und wollen wieder der starke Mann sein.
Ich glaube, es gibt nur einen kleinen Teil von Schülerinnen und Schülern, die wirklich rassistisch sind, einen Teil, der vielleicht in manchen Fragen eher rechter orientiert ist, und die große Mehrheit, die dagegen ist. Aber wegen ihrer Unbefangenheit lassen sich Kinder und Jugendliche von rechten Parolen in Social Media leichter ansprechen und wenn nur 15 bis 20 Prozent der jungen Menschen dafür anfällig sind, dann ist das viel zu viel. Die Frage ist, wie kriege ich einen Fuß in die Tür, dass da ein Umdenken stattfindet? Für junge Menschen spielt erstmal eine große Rolle, was die anderen über sie denken. Die große, stille Masse muss verstehen, dass es sich lohnt, den Mund aufzumachen. Da müssen Mut- und Diskussionsräume geschaffen werden, in denen klar ist, dass es nicht „cringe“ (zum Fremdschämen, Anmerkung der Redaktion) ist, etwas zu sagen.
„WENN EINE ELFJÄHRIGE SAGT, ES SEI WICHTIG, DASS MAN AUFEINANDER ACHT GIBT, DAMIT SOLCHE DINGE WIE IN DER UKRAINE ODER IN ISRAEL NICHT PASSIEREN, DANN MERKT MAN: KINDER BETRIFFT DAS EMOTIONAL.“ STEPHAN ORTH
M!: Sie haben in einem Podcast mal gesagt, Hass und Hetze hören nicht auf, wenn Angst nicht bekämpft wird. Wovor haben Schülerinnen und Schüler denn ganz konkret Angst?
Die erste, primäre Angst ist, nicht dazuzugehören: Ich will wertgeschätzt sein und ernst genommen werden. Besonders am Gymnasium gibt es dann noch die Angst, nicht mithalten zu können, also die Leistungsperspektive, aber auch die Perspektive der relativen Armut: Welche Marken tragen die anderen und kann ich da mithalten? Dann gibt es noch die Zukunftsperspektive: Wo werde ich im Leben mal stehen? Kann ich meine Wünsche und Träume verwirklichen? Und auch die Angst, Sicherheiten zu verlieren: Wenn plötzlich die Oma stirbt, können Mama und Papa dann auch krank werden? Auch junge Menschen erleben Verlust, Tod, Freundschaften gehen auseinander.
M!: Wie begegnen Sie diesen Ängsten? Was sind Ihre Aufgaben und Ziele als Schulseelsorger?
Von Schulseelsorge erwarten die Schülerinnen und Schüler, dass da jemand ist, der einfach da ist – in Krisensituationen, aber auch, wenn sie mal etwas anderes erleben wollen als Leistung. Der Meditationsraum mitten im Gebäude, samt Sitzecke für Gespräche, ist da eine große Neuerung gegenüber dem alten Seelsorgebüro im Keller. Ich will aber noch präsenter sein, ab und an in den Religionsunterricht gehen, auch ein kleines Programm anbieten: den Meditationsmontag, den Mario- Kart-Mittwoch, den Diskussionsdonnerstag und den Filmfreitag – damit die Schülerinnen und Schüler auch mal abschalten können, um Dinge in die Diskussion zu bringen und einen Rahmen zu schaffen, den sie mit ihren eigenen Themen füllen können. Bei der Schulseelsorge darf jeder sein, wie er ist, und niemand muss Angst haben, nicht dazuzugehören.