MÜNSTER! Magazin

Individuell, originell, einzigartig –die Zeichnungen, die Tanina Palazzolound ihr Team den Kunden stechen,sind Unikate. Foto: Tätowiersucht

Februar 2022 N°110
 


Kunst die unter die Haut geht

Münsters erstes Tattoo-Studio feiert seinen 30. Geburtstag. Tätowier-sucht-Gründerin Tanina Palazzolo blickt zurück auf wilde Klischees, kleine Gehversuche und große Kunstausstellungen.

Text Mona contzen


Harte Typen in ACDC-T-Shirts und Motorräder vor zwielichtigen Schuppen, in die sich kaum jemand hineintraut: „Das war lange das Klischee, das Tätowierstudios umgab“, sagt Tanina Palazzolo und schmunzelt. „Ich wollte nicht zwingend das Gegenteil davon sein, aber in den 1980ern waren die Münsteraner eher Müslis, blumige Leute mit Walla-Walla-Kleidern und Birkenstock- Sandalen. Von daher passte es ganz gut, dass ich anders war.“ Die zierliche 53-Jährige, die mit ihrer gelben Beanie- Mütze viel jünger wirkt, nippt an ihrem Kaffee.

Durch das große Schaufenster scheint die Wintersonne auf rote Ledersessel im Science-Fiction-Stil der 1970er Jahre, an der Wand hängen Zeichnungen des bekannten Berliner Tätowierkünstlers Sebastian Domaschke. Alles hier ist bunt, freundlich, verrückt – eine Mischung aus Spielwarenladen und Kunstgalerie. Dabei ist Taninas Tätowiersucht längst den Kinderschuhen entwachsen: In diesem Jahr feiert Münsters erstes Tattoo-Studio seinen 30. Geburtstag, und Tätowierungen sind beliebter denn je.

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Foto: Tätowiersucht

Wilde und Verbrecher tätowieren sich, also sind Tätowierte Wilde und Verbrecher. So lässt sich in etwa die Logik des einflussreichen italienischen Gerichtsmediziners Cesare Lombroso zusammenfassen. Das war im 19. Jahrhundert. Inzwischen hat Umfragen zufolge beinahe jeder vierte Deutsche ein Tattoo und es werden immer mehr. Trotzdem hört es Tanina Palazzolo nicht gern, wenn ihre Kunst als Mode oder – schlimmer noch – als Boom bezeichnet wird. „Tätowierungen sind kein Trend, es gibt sie schon seit tausenden von Jahren“, sagt sie. Tatsächlich hatte schon die Gletschermumie  Ötzi (vermutlich aus medizinischen Gründen) eine stattliche Anzahl Tattoos. Unter Naturvölkern kennzeichneten Tätowierungen Stammeszugehörigkeit und Rang, in Polynesien werden noch heute ganze Familienchroniken unter der Haut verewigt. Von hier brachte der britische Seefahrer James Cook im 18. Jahrhundert die beinahe vergessene Körperkunst mit nach Europa – und aus dem tahitischen „tatau“ wurde das englische Wort Tattoo.
Tanina war 19, als sie sich ihr erstes Tattoo auf der Reeperbahn stechen ließ. Schnell wurden es mehr. Zuhause in Gütersloh besorgte sie sich eine Tätowiermaschine, „nicht weil ich Tätowiererin werden, sondern weil ich Geld sparen wollte“, erzählt sie heute. „Ich dachte, ein Herz mit Pfeil, das ist so simpel von der Bildauswahl, das kann ich auch.“ Bald hatte sie ihren ganzen Freundeskreis tätowiert, dann kam auf einmal ein Anruf aus Münster. Im Imperator, dem alten Rock’n’Roll-Supermarkt in der Jüdefelder Straße, war zwischen Second-Hand-Klamotten, Platten und Pomaden noch Platz für eine Tätowiererin. „Also bin ich mit einem Eimer Farbe eingezogen, habe einen Tag lang gestrichen und am nächsten den Laden aufgemacht“, erinnert sich Tanina. Das war 1992.
Inzwischen ist viel passiert. Das kann man auch an Taninas Körper ablesen. Zählen tut sie die Bilder unter ihrer Haut schon lange nicht mehr: Sogar ihre Hände sind tätowiert, gleich unterhalb des Halses blickt ein drittes Auge das Gegenüber an. Sascha Achilles und Frank Zimmermann sind als berufliche Partner an ihrer Seite, das Studio zog um an den Hansaring. Heute gibt es etwa ein Dutzend Tattoo-Studios in Münsters Innenstadt, trotzdem wartet man bei Tätowiersucht zwei bis sieben Monate auf einen Termin. Und manchmal kommen jetzt sogar Kunden herein, deren Eltern Tanina schon tätowiert hat.

Auch das Herz mit dem Pfeil wurde im Laufe der Jahre abgelöst, erst von Delfinen und Tribals, dann Sternen und Rockabilly-Motiven, schließlich waren Füchse und Eulen, Taschenuhren und Kompasse en vogue. Mittlerweile gibt es eine große Vielfalt an Tattoo- Artists und Stilrichtungen. Wie in der Mode oder der Musik kommen einige Trends wieder, andere verändern oder vermischen sich. „Es ist nur ein Problem, wenn die Leute Tattoos als Konsumartikel missverstehen“, meint Tanina. „Für mich sind Tätowierungen eine Sichtbarmachung meiner inneren Einstellung.“ Die repräsentieren unter anderem ein Kakadu und ein Rabe auf ihrem Rücken: Sie stehen für Klugheit, für schwarz und weiß „und dann habe ich da noch diese Spinnerei, dass sie einen  ähnlichen Charakter haben wie ich“, erzählt die Tätowiersucht-Chefin und lacht.
Zwar sind gängige Motive oft der Einstieg in die Welt der Körperkunst, doch 22 Prozent der tätowierten Männer und vier Prozent der Frauen in Deutschland bereuen ihr Tattoo nach einiger Zeit. Damit das nicht passiert, wollen Tanina und ihr Team die Tätowierung für ihre Kunden zu einer möglichst persönlichen Sache machen. „Tatsächlich ist ein bisschen Psychologie dabei. Wir helfen Traumata zu verarbeiten und Träume zu manifestieren“, sagt die 53-Jährige. Der Träger soll sich Gedanken über sich selbst, die eigenen Charaktereigenschaften und Lebensziele machen – und wird, wenn er unsicher ist, im Zweifelsfall noch einmal auf einen anderen Termin vertröstet.
Der Weg zum richtigen Motiv ist jedenfalls kein leichter. Viele Tattoo- Fans suchen im Internet nach Inspiration und verlassen sich dann auf das Zwiegespräch mit ihrem Tätowierer, der die Vorlage personalisiert, bis daraus ein ganz individuelles – übrigens durch das Copyright geschütztes – Design entsteht. Die Zeichnungen sind Unikate, der künstlerische Prozess, der hinter dem Körperschmuck steckt, wird als solcher in Deutschland aber gar nicht anerkannt. Denn rechtlich gesehen ist Tätowieren weder Kunst noch Handwerk – und Tätowierer ist nicht einmal ein staatlich anerkannter Ausbildungsberuf.

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Tanina Palazzolo tätowiert seit mehr als 30 Jahren. Auf einen Termin in ihrem Tattoo-Studio warten Kunden zwei bis sieben Monate. Foto: Tätowiersucht

Tanina will das  ändern, und in der Branche hat ihre Stimme inzwischen durchaus Gewicht. Von der Einordnung ins Handwerk hält sie wenig, würden damit einhergehende Regulierungen doch die künstlerische Freiheit beschneiden. Stattdessen setzt sie sich als Vorsitzende des Tätowierkunst Vereins dafür ein, das Tätowieren ebenbürtig mit anderen Künsten in der deutschen Kulturlandschaft zu etablieren und – mehr noch – die Tätowierung als  älteste Kunst der Menschheit und damit als immaterielles Kulturerbe zu würdigen. Was dabei hilft, sind  öffentlichkeitswirksame Kunstausstellungen wie die Skulptur-Projekte. 2017 war Tätowiersucht mittendrin: Mit der Installation eines Tattoo-Studios, in dem jeder über 65 seine Tätowierung zum halben Preis bekam, widmete sich der Amerikaner Michael Smith den Themen Alter, Jugendkultur und Trends. Tanina und ihre Crew übernahmen die Ausführung und verewigten die Designs teilnehmender Künstler und Künstlerinnen ebenso wie eigene Entwürfe. Der Titel der Installation lautete übrigens „Not Quite Under_Ground“ und war schon damals eine Anspielung darauf, dass Tätowierungen längst im Mainstream angekommen sind. Statt Lombrosos wilder Verbrecher waren es kulturaffine Senioren, die sich Glocken und Regen unter die Haut stechen ließen. Und das ist doch ein schönes Bild für 30 Jahre Tätowiersucht in Münster.