MÜNSTER! Magazin

 Trio für die Gegenwartskunst in Münster (von links): Kristina Scepanski (Direktorin des Westfälischen Kunstvereins), Dr. Marianne Wagner 
(Kuratorin am LWL-Museum für Kunst und Kultur) und Merle Radtke (Leiterin der Kunsthalle Münster), die Kuratorinnen von „Nimmersatt?“. Foto: LWL / Hanna Neander

Januar 2022 N°109


ZUKUNFTSWÜNSCHE

Im Zentrum der Ausstellung „Nimmersatt? Gesellschaft ohne Wachstum denken“ steht der Begriff des sogenannten Postwachstums – ein Zeitalter, in dem soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit bedeutender sind als das Wirtschaftswachstum. Für die Kunsthalle Münster, den Westfälischen Kunstverein und das LWL-Museum für Kunst und Kultur ist es das erste gemeinsame Projekt. Im Gespräch berichten die Kuratorinnen Merle Radtke, Kristina Scepanski und Dr. Marianne Wagner von der Entstehung, beschreiben Kunst als Ansporn und erklären, warum der Prinzipalmarkt der richtige Ort zum Aufrütteln ist.

Text CHRISTOPH SCHWARTLÄNDER


Mit „Nimmersatt?“ erleben Kunsthalle, Kunstverein und Museum eine Premiere. Was eint Sie ausgerechnet beim Thema des Postwachstums?
Marianne Wagner: Uns eint vieles, ganz besonders der Wille, gemeinsam nachzudenken. Eine Kooperation wie diese ermöglicht es, sich auszutauschen und Thesen und Ausstellungsideen im Gegenüber kritisch zu reflektieren. Wir fanden, dass es Zeit ist, den aktuellen Zustand unserer Gesellschaft in einer Ausstellung zu thematisieren und Münster bietet, so hoffen wir, als prosperierende Universitätsstadt dafür einen geeigneten Nährboden.

Merle Radtke: Bei mir persönlich ruft die gesellschaftliche Lage, nicht zuletzt aufgrund der Informationsflut, der wir ausgesetzt sind, ein Gefühl von Ohnmacht hervor. Dieser großen Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, zu dritt zu begegnen, ist eine interessante Form der Auseinandersetzung. Wir nutzen die Qualität des Austauschs. Dieser hält nicht die eine Lösung für das Ganze bereit, sondern präsentiert durch die Künstlerinnen und Künstler an drei Institutionen sehr viele Stimmen. Das Publikum kann sich dem nur schwer entziehen. Zumindest nicht, wenn es sich gerade zeitgenössische Kunst in Münster ansehen möchte.

Die Idee zur Ausstellung entstand in Zeiten der Pandemie. Inwiefern besteht ein Zusammenhang?
Wagner: Letztlich ist es ja so, dass die gesamte Weltlage in Bezug auf Umwelt, Wirtschaft und das Zusammenleben der Menschen zunehmend prekär und schwierig ist. Das Thema ist auch kein neues, wir kennen es seit den Achtzigerjahren aus aktionistischen Zusammenhängen und auch im Rahmen von parteipolitischen Forderungen. Man kann gar nicht nur über Wirtschaft oder nur über Soziales sprechen. Alles hat miteinander zu tun und betrifft unsere Zukunft. Die Pandemie zeigt wie durch ein Brennglas, dass wir in eine Schieflage geraten sind. 
Kristina Scepanski: Zu Beginn der Pandemie erlebten wir ein erzwungenes Innehalten. Man musste etablierte Strukturen überdenken und konnte nicht den Standard fahren. Das war ein Punkt für uns, zu überlegen: Kann dies eine Chance sein? Natürlich ohne sich darüber hinwegzusetzen, dass die Zeit für viele Leute mit Leid verbunden war und ist. Es ging darum zu fragen, ob es einen Moment gibt, in dem man nicht konsumieren, nicht fliegen, nicht reisen, nicht arbeiten kann. Und was macht man dann? Woher holt man ein Selbstwertgefühl, einen Daseinswert oder Glückseligkeit? Es war wie ein Experiment, das von außen kam. Die Ausstellung ist auch unsere eigene, individuelle Reaktion darauf.

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Kommentar zum Konsum: Für ihr Werk „Sans titre“ (2021) deformierte Anita Molinero etwa Plastikmülltonnen mit dem Flammenwerfer. Zu sehen auf dem Vorplatz und im Westfälischen Kunstverein. Foto: LWL / Hanna Neander

Spüren Sie beim Publikum ein Interesse daran, sich über dieses Thema auszutauschen? 
Wagner: Es gibt sowohl kritische als auch enthusiastische Stimmen. Und es gibt Ängste. Die Rede von der Postwachstumsgesellschaft weckt den Ruf nach Veränderung des Status quo. Dass Verzicht auch positiv gedacht werden kann, bedarf vieler Diskussionen – und die führen wir gerne.

Woher rührt die Angst? 
Scepanski: Wir alle sind mit dem Konzept aufgewachsen, an Wachstum zu glauben. Nur dadurch kann offenbar ein gewisser Lebensstandard geschaffen werden, mit dem wiederum ein Glücksversprechen verbunden ist. Ich glaube, wenn wir uns vom bekannten System lösen, fehlt vielen die Fantasie, sich eine Alternative auszudenken. Mit künstlerischen Positionen können andere Thesen eine Form finden und andere Bilder geschaffen werden, über die man sich annähert oder erst einmal wahrnimmt, wie sehr die Prämisse eines Wachstums in einem drinsteckt, ohne dass es einem bewusst ist.

„Nimmersatt?“, der Titel der Ausstellung, erinnert an die Raupe im Kinderbuchklassiker. 
Wagner: Nimmersatt ist ein bildhaftes Adjektiv. Lassen wir das N weg, heißt es Immersatt. Es fasst unsere Gesellschaft in einem Wort sehr gut zusammen. Wir folgen dem Prinzip vom Immermehr und Immer-weiter in allen Richtungen. Beim Untertitel „Gesellschaft ohne Wachstum denken“ war uns wichtig, einen Raum zum gemeinsamen Denken zu eröffnen. Das Publikum ist dazu eingeladen, ins Gespräch zu kommen.

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Darstellungen ausgestorbener Tiere: die raumgreifende Installation „Comrades in Extinction“ (2021) von Radha D’Souza und Jonas Staal. Zu sehen in der Kunsthalle Münster. Foto: LWL / Hanna Neander
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Foto: LWL / Hanna Neander

Wie haben Sie die Künstlerinnen und Künstler für „Nimmersatt?“ ausgewählt? 
Radtke: Einzelne Positionen hatten wir schon im Kopf. Der andere Teil der Auswahl war die konkrete Recherche nach Künstlerinnen, Künstlern und ihren Werken. Ausschlaggebend war am Ende vor allem die Frage, ob sie in die Ausstellung passen. Natürlich hätte es auch zahlreiche andere künstlerische Positionen gegeben, die man in der Ausstellung hätte zeigen könnten, aber es geht auch darum, wie die Werke im Raum ganz unmittelbar miteinander in Verbindung treten. Mitunter hätte es zu viel Text gebraucht, um etwas schlüssig zu erklären – ein Aspekt, der sich in die Auswahl der Positionen eingeschrieben hat. Für mich ist das Schönste an einer Gruppenausstellung, wenn die Werke während des Aufbaus im Raum zusammenkommen und sich ein Aha-Moment einstellt. Als ich zum ersten Mal das Werk von Anita Molinero für den Vorplatz des Westfälischen Kunstvereins sah – zwei grüne geschmolzene Plastikmülltonnen – und wir in der Kunsthalle parallel die Installation von Radha D’Souza und Jonas Staal aufbauten, dachte ich: Interessant, ich hätte nicht gedacht, dass diese beiden Positionen auf eine giftig-toxische Art miteinander agieren. Uns war wichtig, inhaltliche Verbindungen zwischen den Häusern zu schaffen. 
Wagner: Die Ausstellung haben wir immer im Hinblick darauf konzipiert, welche Nachbarschaften entstehen. Wenn das eine Werk mit dem anderen anfängt zu kommunizieren, zu korrespondieren, sich vielleicht zu ergänzen oder zu reiben, wird die Auseinandersetzung für die Besucherinnen und Besucher spannend.

Den Projektraum zwischen Museum und Kunstverein bespielt der Bildhauer und Konzeptkünstler Raul Walch. Was hat Sie an seiner Arbeit interessiert? 
Wagner: Ein Grund, warum wir auf ihn zugegangen sind, ist nicht nur sein künstlerisches Schaffen, sondern auch seine Haltung. Mit dem Auftrag für ein neues Werk ist Raul Walch ins Münsterland gefahren, um über Energieressourcen, Konsum und den Verbrauch von Materialien nachzudenken. Als Format für sein Werk hat er den Workshop gewählt. Diese Arbeitstechnik hat im Zeitalter des Postwachstums Zukunft – nicht einzelne geniale Köpfe entscheiden, sondern das gemeinsame Arbeiten und Nachdenken in der Gruppe, bei dem die Menschen an einem Strang ziehen. Wie wollen wir zusammenleben? Wie gehen wir in der Gesellschaft miteinander um? Welche Rolle spielt Empathie? 
Scepanski: Aktuell erleben wir in der Gesellschaft, dass der Einzelne sein Glück vor das des anderen stellt. Wie wäre es, ihn von vornherein mitzudenken und sich von der sehr individualistischen Lebensweise zu verabschieden? Sich ständig auszutauschen, ein empathisches Gefühl zu entwickeln – das kann ein Wunsch für die Zukunft sein. 
Radtke: Wer Erzählstränge zwischen den Arbeiten ausmachen möchte: Die großen Themen der Empathie und das Mitdenken des anderen finden sich in allen drei Häusern.

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Neben zwei Videoarbeiten zeigt Raul Walch mit seiner Installation „Die feinen Unterschiede“ (2021) ein Mobile aus Stoff, Schnur, Draht, Metall, Papier, Carbon und Beton. Zu sehen im Projektraum zwischen dem Westfälischen Kunstverein und dem LWL-Museum für Kunst und Kultur. Foto: LWL / Hanna Neander

Warum ist Empathie so entscheidend? 
Wagner: Es ist ein klarer Vorschlag auf die Frage, wie wir miteinander leben wollen. Empathie ist die Grundlage, menschliches Verhalten zu verstehen. Im Museum gibt es beispielsweise eine Arbeit von Johan Grimonprez, für die er den Soziologen Michael Hardt interviewt hat. Hardt sagt, dass der Staat im Sinne von Machiavelli auf einem hierarchischen System aufbaut, mit einem Herrscher an der Spitze, den alle fürchten. Laut Hardt müssten wir, übertragen auf die heutige Zeit, empathisch vorgehen. Sein Vorschlag fürs Postwachstum ist, den gesamten Staat auf der Basis von Liebe aufzubauen. 
Radtke: In der Kunsthalle zeigen wir die bereits erwähnte Arbeit von Radha D’Souza und Jonas Staal, die aus dem „Court for Intergenerational Climate Crimes“, dem Gerichtshof für generationsübergreifende Klimaverbrechen, hervorgegangen ist. Mit ihrem Werk rufen die Juristin und Menschenrechtsaktivistin und der bildende Künstler dazu auf, eine zukünftige Generation mitzudenken, indem sie auf heutige Verbrechen an der Umwelt hinweisen und die Frage, wie diese sich über Jahrzehnte auf die Natur und Sozialsysteme auswirken. Auch hier ist Empathie gefragt. 

Wie näherten Sie sich dem komplexen Thema des Postwachstums? 
Scepanski: Am Anfang fragten wir uns als Kuratorinnen, was unter den Begriff des Postwachstums fällt – um dann festzustellen, dass es alle Bereiche des Lebens betrifft. Man kann über Umwelt, Zukunft und über gesellschaftliches und globales Miteinander, aber auch über Handel und Ausbeutung reden. Dafür Bilder und Erzählungen zu finden, war unsere Aufgabe. Wir wollten keine Ausstellung, die am Ende ist wie die Videobeiträge im Weltspiegel und einfach nur schlechte Laune macht. Man soll das Thema nicht auf die leichte Schulter nehmen. Besucherinnen und Besucher verlassen die Ausstellung idealerweise angeregt und haben vielleicht Lust, in ihrem Bereich etwas zu tun und bewusster zu leben. Das geschieht neben einer intellektuellen Auseinandersetzung auch durch Wahrnehmung. Man spürt, was im Argen liegt, welche Gefahren es gibt.

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Ausstellungsansicht des 15-minütigen Videos „Every Day Words Disappear | Michael Hardt on the Politics of Love“ (2016) von Johan Grimonprez. Zu sehen im LWL-Museum für Kunst und Kultur. Foto: LWL / Hanna Neander

Was haben Sie selbst durch die Arbeit an „Nimmersatt?“ gelernt? 
Wagner: Wir befinden uns in einer Situation, in der wir der nächsten und übernächsten Generation eine Welt überlassen, die mit ihren Strukturen nicht mehr lange überleben wird. Zugleich ist es schwierig, aus den eigenen privaten und beruflichen Strukturen heraus Veränderungen herbeizuschaffen. Wir leben in einer hochprofessionalisierten Welt. Die Organisationsformen, in denen wir Menschen uns befinden, sind nicht darauf angelegt, sie schnell zu ändern. Und der eigene Schweinehund ist ein ganz schön großer. 
Radtke: Alles ist zugezogen wie ein riesiger Knoten. Nur ein Beispiel: Welche Auswirkungen hat es, wenn wir hier auf E-Mobilität umstellen? Es liest sich super, aber in Chile werden dafür vier neue Minen errichtet, damit dort die Stoffe für notwendige Batterien abgebaut werden können. Auf der einen Seite der Welt versucht man an dem Knoten also etwas zu lockern, während man ihn auf der anderen massiv zuzieht. Wieder ist es eine Frage der Empathie. Und was bedeutet es eigentlich, wenn hier alles überflutet wird, während es in Italien und Griechenland brennt? Durch die Ausstellung hat sich bei mir eine größere Empfindsamkeit eingestellt. Der zugezogene Knoten ist mir bewusster geworden. Das stimmt einen nicht wirklich glücklich, weil es wie ein unlösbares Problem erscheint. 
Scepanski: Die Auseinandersetzung mit unserer Ausstellung hat dazu geführt, dass ich nicht mehr nur wie das Kaninchen vor der Schlange sitze. Zwar kann ich keine konkrete Sache tun, weil das Thema zu groß ist. Aber es gibt Arbeiten, die mich kitzeln und herausfordern, die mir Spaß bringen im Sinne von: So, wir machen das jetzt! Statt den Finger auf alle Wunden zu legen, kann die Ausstellung den Blick auf die Dinge verändern. Diesen Schwung spüre ich bei mir. 
Wagner: Die Arbeit an der Ausstellung hat einen interessanten Zugzwang ausgelöst. Etwa bei der Frage, welches Papier wir für die Einladungskarten und die Publikation nehmen. Es sollte natürlich mit Zertifizierung sein und nahe produziert werden. So fingen wir an, im eigenen institutionellen Raum andere Maßstäbe anzulegen und den schon erwähnten Knoten aufzulösen. Insgesamt brauchen diese Prozesse viel Geduld, es sind viele einzelne Fäden. Die Künstlerin Alice Creischer hat für uns in einem Raum einzelne Wollfäden von einer Stelle zur anderen gespannt. In dieser Raumkonstellation zeigt sich unglaublich gut, wie das eine mit dem anderen verbunden ist. Genauso ist es mit den Themen des Postwachstums.

Sie meinen, die Ausstellung animiert dazu, genauer hinzusehen? 
Wagner: Ja, wissend kann man selbst anfangen Nachrichten oder Texte kritisch zu lesen und zu befragen, was man dort eigentlich hört und sieht. 
Scepanski: Warum sehe ich abends die Börsennachrichten und nicht auch Klimanachrichten? Wir sind darauf trainiert, dass ohne Geld und ohne Wirtschaft nichts läuft. Das Konstrukt der Produktivität ist aber offenbar relevanter als die Frage, ob wir in naher Zukunft verbrennen oder ertrinken werden. 
Radtke: Verzicht bedeutet ja erst einmal: Nein, nehmt mir nichts weg! Man könnte auch sagen: Was interessiert mich die Welt in hundert Jahren? Erforderlich ist ein Drehen im Denken. Bedeutet es wirklich, dass mir etwas weggenommen wird? Wie essenziell ist es wirklich? Ein positiver Verzicht kann am Ende mehr Welt bedeuten. 
Scepanski: Oft ist es sinnvoller, den Verzicht in etwas Positives zu drehen – statt darauf zu hoffen, dass sich bei Menschen eine Empathie für eine zukünftige Bevölkerung einstellt, zu der kein Bezug besteht. Bei eigenen Kindern ist es nachvollziehbar, weil deren Zukunft auf dem Spiel steht. Aber warum soll jemand verzichten für etwas komplett Abstraktes? Besser ist es zu überlegen, wie der Verzicht etwa auf Konsum zufrieden stimmt und man sich am Ende des Tages fragt: Was habe ich heute nicht gekauft?

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Matt Mullican entwarf „4 × 8 Flags from a Stone“ (2021) – fünf Meter lange Fahnen, die auf einem Zeichensystem mit ausgewählten Formen aus Handel und Warentausch basieren. Zu sehen am Prinzipalmarkt ab dem 10. Januar 2022. Illustrationen: Matt Mullican

An „Nimmersatt?“ ist mit Matt Mullican ein alter Bekannter beteiligt, der in Münster für die Skulptur Projekte 1987 ein Bodenrelief aus Granitplatten schuf. Was verbirgt sich hinter seinem Beitrag? Scepanski: Als Matt Mullican über den Prinzipalmarkt ging und dort einzelne Fahnen an den Giebelhäusern sah, war sein erster Impuls, dort selbst welche zu installieren. Er arbeitet mit Kosmologien und simplen Symbolen, die einerseits plakativ sind, andererseits Informationen beinhalten. Diese auf Fahnen zu drucken, kann mitunter provokativ sein. Nach dem Abbau der Weihnachtsbeleuchtung werden wir am 10. Januar insgesamt 32 Fahnen von Matt Mullican am Prinzipalmarkt installieren. Dazu hat er einzelne Motive der Granitplatten von 1987 ausgewählt.

Damit holt er ein 35 Jahre altes Werk in die Gegenwart. 
Wagner: Es zeigt, dass jede Arbeit in ihrer Zeit anders gelesen werden kann, und gerade der öffentliche Raum eine andere Lesart vorschlägt. Ähnlich ist es mit den Müllcontainern von Anita Molinero. Vor einem Gebäude wie unserem nimmt man sie anders als irgendwo in der Peripherie wahr. Und im Kontext des Prinzipalmarkts, einer sehr schmucken Einkaufszeile, werden die Fahnen von Matt Mullican anders als in einem Ausstellungsraum verstanden. 
Scepanski: Matt Mullicans Arbeit für die Skulptur Projekte nimmt ja Bezug auf die Umgebung, auf die Universität und die chemischen Institute. Die veränderte Form – Symbole sind nicht in eine Granitplatte in den Boden eingelassen, sondern hängen an Häusern –, erinnern an die zunehmenden Demonstrationen und Proteste in letzter Zeit. Fahnen im Stadtraum haben eine andere Schwere bekommen. Sie sind eine Meinungsäußerung geworden. Indem Matt Mullican mit sehr lauten Farben arbeitet, entsteht gegenüber den Häuserfassaden ein Kontrast, der die Menschen im Alltag bremsen wird. 
Radtke: Es ist ein Projekt zwischen den Institutionen – wie ein verbindendes Moment, dem sich niemand entziehen kann. 
Scepanski: Wir haben festgestellt, dass auch Kreisläufe ein Aspekt der Ausstellung sind, etwa von Ressourcen zu Waren wieder zu Müll oder der Austausch zwischen Mensch und Natur. Insofern fanden wir es bei Matt Mullican gut, dass er sich auf Symbole bezieht, die Teil seines Vokabulars sind. Zugleich wird das Werk wiederverwendet, indem wir es nach Ausstellungsende in den Kunstverein zurückführen, wo wir es als Jahresangabe an unsere Mitglieder verkaufen werden. 
Wagner: Um Kreisläufe geht es zum Beispiel bei Andreas Siekmann oder Alice Creischer. Schon lang beschäftigen Sie sich mit den thematischen Strängen des Postwachstums – auf eine sehr dezidierte, theoretisch-tiefgreifende Art und Weise, die einen immer dazu bringt, Dinge weiterzudenken und Themen zu verfolgen. 
Radtke: Wenn ich mit Andreas Siekmann spreche, denke ich: Wow, los, jetzt müssen wir wirklich etwas unternehmen! Ich hoffe, dass sich in unserer Ausstellung diese Energie weitertransportiert – von den Künstlerinnen und Künstlern über uns in der Position der Vermittlerinnen bis zum Publikum.

Personen und Institutionen 

Merle Radtke: (*1986) leitet seit 2018 die Kunsthalle Münster. Der 1991 gegründete städtische Ausstellungsraum zeigt im Speicher II nationale wie internationale zeitgenössische Kunst. Kunsthalle Münster: Hafenweg 28, kunsthallemuenster.de 
Kristina Scepanski: (*1982) übernahm 2013 die Direktion des Westfälischen Kunstvereins. Aufgabe der 1831 gegründeten, zu den ältesten Kunstvereinen Deutschlands zählenden Institution ist die Förderung und Etablierung junger Gegenwartskunst. 
Westfälischer Kunstverein: Rothenburg 30, westfaelischer-kunstverein.de 
Dr. Marianne Wagner: (*1978) kam 2015 als Kuratorin für Gegenwartskunst an das LWL-Museum für Kunst und Kultur. 2017 gehörte sie zu den Kuratoren der Skulptur Projekte, Münsters alle zehn Jahre stattfindenden Kunstausstellung im öffentlichen Raum. 
LWL-Museum für Kunst und Kultur: Domplatz 10, lwl-museum-kunst-kultur.de

NIMMERSATT? GESELLSCHAFT OHNE WACHSTUM DENKEN 

Ausstellung an drei Orten: 
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz 10 
Westfälischer Kunstverein, Rothenburg 30 
Kunsthalle Münster, Hafenweg 28 

Noch bis Sonntag, 27. Februar 2022