MÜNSTER! Magazin

Marco Tammen, Renate Ostendorf, Rosi Lürenbaum und Lina Kohl (von links) bilden das Team der Selbsthilfe-Kontaktstelle in Münster. Foto: Kontaktstelle Selbsthilfe

N°142


Hilfe zur Selbsthilfe

„Mein Name ist Tim und ich bin spielsüchtig“, sagt der Neuzugang im Sitzkreis. „Hallo, Tim“, schallt es im Chor zurück. Dieses aus Film und Fernsehen bekannte „Klischee“-Szenario ist für viele der einzige Berührungspunkt zum Konzept der Selbsthilfegruppe. Ein Austausch mit der Selbsthilfe-Kontaktstelle Münster zeigt, dass noch viel mehr dahintersteckt.

Text LOTTA KRÜGER


Gibt es ein Thema, ein Gefühl oder ein Krankheitsbild, über das Sie gerne einmal mit jemandem sprechen würden, der genau nachempfinden kann, wie es Ihnen geht? Mit jemandem, der ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hat und Ihnen deswegen ohne Vorurteile, dafür mit großem Verständnis begegnen wird? Genau dafür gibt es Selbsthilfegruppen. Die Situation oder Beschwerde ist so spezifisch, dass Sie glauben, dafür gebe es keine passende Gruppe? In Münster stehen

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Foto: AdobeStock

Von A wie Angst, Autismus und Adipositas bis Z wie Zöliakie, Zwangserkrankungen und Zwillingseltern – die Liste der Themen, zu denen es in Münster Selbsthilfegruppen gibt, ist lang. Neben bekannten und verhältnismäßig häufig auftretenden Krankheitsbildern wie Depression, Sucht, Essstörung, Burnout und emotionalen Themen wie Trauer, Verlust und Tod gibt es auch Gruppen für „nischigere“ Anliegen: So haben sich etwa schon Menschen mit Dyskalkulie, Endometriose, Hochbegabung oder unerfülltem Kinderwunsch zu Selbsthilfegruppen zusammengefunden – ebenso wie Eltern psychisch kranker Kinder, Haftentlassene, pflegende Angehörige, intergeschlechtliche Personen oder Kriegsenkel. 

In rund 250 Selbsthilfegruppen können sich Münsteranerinnen und Münsteraner mit Menschen austauschen, die aufgrund von vergleichbaren Erfahrungen ganz ähnlich empfinden wie sie. Das ist vor allem der Selbsthilfe-Kontaktstelle Münster zu verdanken. Sie ist die zentrale Anlaufstelle für alle Fragen rund ums Thema Selbsthilfe und berät Menschen, die eine Selbsthilfegruppe suchen oder gründen möchten. „Wir informieren die Bürgerinnen und Bürger, die sich bei uns melden, über das bestehende Angebot oder unterstützen sie bei der Gründung neuer Gruppen“, erzählt Marco Tammen, der seit 18 Jahren bei der Kontaktstelle arbeitet. Auch den bestehenden Gruppen steht die Kontaktstelle mit Rat und Tat zu Seite: „Wir vernetzen sie untereinander und fördern den Erfahrungsaustausch, indem wir zum Beispiel Seminare und Fortbildungen für die Teilnehmenden anbieten.“ Die dritte Säule der Arbeit der Kontaktstelle ist das, was Marco Tammen „Lobbyarbeit“ nennt: Er und sein Team sorgen dafür, das Thema Selbsthilfe vor Ort bekannter zu machen und es mit professionellen Hilfsangeboten, Politik und Verwaltung zu verknüpfen.

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Foto: Kontaktstelle Selbsthilfe

„Die Gruppen ersetzen bei ernsten psychischen Problemen natürlich keine professionelle Therapie. Sie sind vielmehr eine sinnvolle Ergänzung, die einen enormen Effekt auf das Wohlbefinden der Teilnehmenden haben kann.“ Marco Tammen Selbsthilfe-Kontaktstelle Münster

ENORME EFFEKTE AUFS WOHLBEFINDEN 

Doch was sind Selbsthilfegruppen überhaupt – und wie funktionieren sie? In den Gruppen finden Menschen zusammen, die unter der gleichen Krankheit leiden, sich in ähnlichen, herausfordernden Lebenssituationen befinden oder einen vergleichbaren Leidensweg hinter sich haben. Ob Blindheit, Migräne, Stottern oder eine überstandene Organtransplantation, ob die Erfahrung des Coming-Outs oder einer toxischen Beziehung: In regelmäßigen Treffen können sich die Teilnehmenden der Gruppen zu den physischen oder psychischen Themen austauschen, die sie im Alltag beschäftigen – und sich gegenseitig mit Erfahrungen, Tipps und Informationen versorgen, einander unterstützen und motivieren. Der Unterschied zu einer „klassischen“ (Gruppen-)Therapie: In den Selbsthilfegruppen sind ausschließlich Betroffene – oder je nach Thema Angehörige von Betroffenen –, aber keine professionellen Leitungspersonen dabei. „Daher ersetzen die Gruppen bei ernsten psychischen Problemen natürlich keine professionelle Therapie. Sie sind vielmehr eine sinnvolle Ergänzung, die einen enormen Effekt auf das Wohlbefinden der Teilnehmenden haben kann“, erklärt Marco Tammen. „Die Menschen finden hier echtes Verständnis. Sie merken, dass sie nicht allein sind mit ihren Gefühlen, und können sich stark miteinander identifizieren. Das ist etwas anderes, als wenn du dich mit einem Arzt austauschst, der zwar in der Theorie alles über deine Krankheit weiß, aber sie selbst nicht erlebt hat.“ 

Die Selbsthilfe-Kontaktstelle in Münster gibt es seit 1988. Damals war sie eine von 20 Kontaktstellen, die an einem bundesweiten Modellprojekt teilgenommen haben – mit Erfolg. „Heute weiß man, dass die Zahl der Gruppen überall da steigt, wo Selbsthilfe- Kontaktstellen vor Ort sind“, so Tammen. Kein Wunder, denn das Angebot der Kontaktstellen ist denkbar niedrigschwellig – es ist kostenlos, unabhängig und vertraulich. Träger der Kontaktstelle Münster ist der Paritätische Wohlfahrtsverband NRW; die Stadt Münster, das Land NRW und die gesetzlichen Krankenkassen unterstützen sie finanziell.

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„Jedes Mal, wenn ich nach einem Treffen mit meiner Selbsthilfegruppe nach Hause gehe, geht es mir ein bisschen besser als davor. Ich fühle mich meiner Depression weniger ausgeliefert und von anderen gesehen, verstanden und gestärkt.“ Marlena Teilnehmerin der Gruppe Depression bis 35

Wer noch nie an einer Selbsthilfegruppe teilgenommen hat, kann sich vermutlich erst einmal nicht allzu viel unter dem Ablauf einer Sitzung vorstellen. „Es gibt auch keine allgemeingültige Struktur, das ist sehr individuell. Wenn eine Gruppe neu gegründet wird, sind wir aber in den ersten Sitzungen meist dabei, um den Teilnehmenden ein paar Tipps mit auf den Weg zu geben. Dazu gehört etwa, am Anfang jeder Sitzung eine kleine Runde zu machen, in der jeder erzählen kann, wie es ihm gerade geht.“ Danach gehe es dann oft direkt in den Austausch über – gerade in der Anfangszeit gebe es meist mehr als genug Redebedarf, weil die Menschen einander kennenlernen und hören wollen, wie die anderen mit der jeweiligen Krankheit oder Situation umgehen, so Tammen. „Mit der Zeit legen einige Gruppen dann eine Liste an, um sich in den Sitzungen gezielt mit verschiedenen Aspekten ihres Themas auseinanderzusetzen.“ 

VON „VOLKSKRANKHEITEN“ BIS ZU NISCHEN-THEMEN 

Während die meisten Gruppen von Betroffenen initiiert werden, übernimmt die Kontaktstelle bei einigen Themen inzwischen auch eigenständige Gründungen. So etwa beim Thema Depression: Weil hier der Bedarf besonders hoch ist und oft alle Gruppen voll belegt sind, führt die Kontaktstelle eine Warteliste an Interessierten. Sobald darauf genügend Leute stehen, werden diese eingeladen und eine neue Gruppe wird eröffnet. Aber auch das Gegenteil kann vorkommen: „Bei einigen Themen dauert es etwas länger, bis wir genügend Leute für eine Gründung beisammen haben. So war es zum Beispiel bei der Gruppe für Hashimoto- Erkrankte, die nun aber einen sehr stabilen Kern hat – während in den Gruppen für Depressionen eine höhere Fluktuation herrscht.“ Sollte es tatsächlich mal ein Thema geben, bei dem wegen zu geringer Nachfrage keine Gruppe zustande kommt, vermittelt die Kontaktstelle die zwei oder drei Interessierten miteinander, damit sie sich privat austauschen können. Auch das ist für die Betroffenen oft schon eine große Erleichterung.

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„Weil Long Covid eine relativ neue Erkrankung ist, werden wir Betroffenen oft von Behörden im Gesundheitssystem und manchmal selbst im engsten Umkreis nicht ausreichend ernst genommen. In der Selbsthilfegruppe ist unsere Erkrankung selbsterklärend. Es gibt Verständnis und Hilfe – und man ist nie allein.“ Sandra Teilnehmerin der Gruppe Long-Covid

Doch weil dank der Arbeit der Kontaktstelle immer mehr Münsteranerinnen und Münsteraner von der Vielfalt an Selbsthilfegruppen erfahren, kommen meist rasch genug Menschen für eine Gruppengründung zusammen. Bei rein gesprächsorientierten Gruppen empfiehlt die Kontaktstelle eine Größe von höchstens acht bis zwölf Personen – bei einer höheren Teilnehmerzahl wird es schwer, alle mit einzubinden. Es gibt aber auch Gruppen, die sich häufig Expertinnen und Experten für das jeweilige Thema einladen. Bei solchen Vorträgen können dann auch mal 30 Leute zusammenkommen. Genau wie die Gestaltung der Sitzungen wird übrigens auch der Ort, die Zeit und die Häufigkeit der Treffen nicht von der Kontaktstelle vorgegeben, sondern von den Teilnehmenden gemeinsam entschieden. Drei Räume bietet die Kontaktstelle an ihrem Standort am Dahlweg an – sind diese belegt oder nicht geeignet, hilft sie den Gruppen bei der Suche nach einem anderen Treffpunkt. 

Die Reaktionen, die an Marco Tammen und sein Team herangetragen werden, zeigen, welchen großen Mehrwert das Konzept der Selbsthilfegruppe bringt. „Was wir oft hören ist: ‚Endlich! Endlich habe ich Leute, mit denen ich sprechen kann.’ Diese Chance hatten die Gruppenteilnehmenden vorher oft nicht – im Freundeskreis und in der Familie stießen sie mit ihrem Thema vielleicht auf Unverständnis oder Überforderung.“ Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen kann so auch die privaten Beziehungen der Betroffenen entlasten – indem der Redebedarf mit Menschen gestillt wird, die durch ähnliche Erfahrungen häufig die besseren Gesprächspartner sind. 

„Das Gefühl, wirklich verstanden zu werden, habe ich nur, wenn ich mich mit anderen Betroffenen austausche. Dank der Anonymität im Rahmen der Selbsthilfegruppe – den anderen Teilnehmenden ist nur mein Vorname bekannt – kann ich den Mut fassen, auch über vermeintlich beschämende oder peinliche Dinge offen zu sprechen.“ Daniel Initiator der Gruppe Limerenz*

* Limerenz beschreibt das Phänomen der obsessiven Verliebtheit.

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Für eine ihrer Veranstaltungsreihen lädt die Kontaktstelle regelmäßig in die Stadtbücherei ein, um offen über psychische Erkrankungen zu sprechen. Foto: Kontaktstelle Selbsthilfe

„Ein Kollege hat mal gesagt, unsere Kontaktstellen sind Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen“, erzählt Marco Tammen. Damit meint er, dass Themen, bevor sie in der breiten Gesellschaft populär werden, oft zuerst in der Selbsthilfe „aufploppen“. So wurden etwa schon früh Gruppen für Long-Covid-Betroffene gegründet. Diese Dynamik macht die Arbeit von Marco Tammen und seinem Team in der Kontaktstelle so vielseitig und spannend. „Außerdem beeindruckt mich das Engagement der Menschen, die die Gruppen gründen und mitgestalten. Die nehmen die Sache in die Hand, verlieren sich nicht in einer Opferrolle, sondern gehen aktiv nach vorne – und helfen damit nicht nur sich selbst, sondern auch vielen anderen.“ Dieses Engagement zu erleben und zu fördern, sei eine schöne Aufgabe. Neben der Arbeit mit den Gruppen liegt es dem Team der Kontaktstelle aber auch am Herzen, der Selbsthilfe zu mehr öffentlicher Sichtbarkeit zu verhelfen. Dafür hat sie unter anderem eine Veranstaltungsreihe mit dem Namen „Wie fühlt sich das eigentlich an? Mein Leben mit …“ eingeführt. Diese widmet sich an verschiedenen Themenabenden in der Stadtbücherei je einer psychischen Erkrankung, über die sich die Besucherinnen und Besucher in offener Runde austauschen können. Zu den Veranstaltungen kommen meist um die 100 Teilnehmer – darunter Betroffene, Angehörige, Fachleute und interessierte Bürgerinnen und Bürger. „Wie eine große Selbsthilfegruppe“, beschreibt es Marco Tammen. So schafft die Kontaktstelle nicht nur Sichtbarkeit, sondern auch Akzeptanz – für Themen, die sich viel zu lange in der Tabuzone des öffentlichen Diskurses bewegt haben. Gut, dass die Kontaktstelle dabei hilft, sie hervorzulocken!

paritaetischer-muenster.de/ selbsthilfe-kontaktstelle

Wenn Sie jetzt denken: „Neues Jahr, jetzt geh ich’s an!“ – melden Sie sich gerne mit Ihrem Anliegen zur Suche oder Gründung einer Selbsthilfegruppe bei der Kontaktstelle!