N°146
Auf schnellen Reifen zur Glückseligkeit
Rennradfahren ist spätestens seit der Pandemie zum Trendsport geworden. Viele sportliche RadlerInnen organisieren sich in Gruppen und fahren gemeinsam durch das Münsterland. Sarah Held und die Gruppe „Mutter Birken“ sind Teil einer florierenden Community rund um Räder, Asphalt und gute Laune.
Text Maurice Lötzsch
Wer auf den Landstraßen rund um Münster unterwegs ist, kann sie unschwer erkennen. Verspiegelte Sonnenbrillen, hautenge Funktionskleidung, Helme, ein sportliches Fahrrad unter den vier Buchstaben. Mit jeder Menge Power aus den Oberschenkeln drehen sie ihre Runden und reißen unzählige Kilometer ab. Meistens sind sie dabei in größeren Gruppen unterwegs. Die Rede ist von Menschen, die sich einem der Trendsports der letzten Jahre verschrieben haben: Rennrad fahren. Einem Individualsport, der auch von einem Gemeinschaftsgefühl lebt. Interessierte schließen sich in Gruppen zusammen und begehen gemeinsame Ausfahrten.

Eine dieser Gruppen ist „Mutter Birken“, benannt nach der gleichnamigen Gaststätte an der Schulstraße im Kreuzviertel. Dort findet sich der Ursprung einer kleinen, verschworenen Gemeinschaft, deren Gründung einst zwischen Kneipenlicht und Bierkrügen vollzogen wurde, als einige kreative Köpfe beisammensaßen und ihrem Hobby ein bisschen mehr Community, ein bisschen mehr Organisation geben wollten. Schnell wurde die Idee einer gemeinsamen Rennrad-WhatsApp-Gruppe in den Raum geworfen. Das Ziel: gemeinsame Touren in vertrauter Atmosphäre und mit sportlichem Ehrgeiz.
Nach und nach füllte sich das digitale Kontaktbuch mit interessierten FreundInnen. Ein fester Termin entstand – immer mittwochs sollte es von der Stammkneipe aus hinaus ins Münsterland gehen. Eine der Teilnehmenden der ersten Stunde ist Sarah Held (41), die zu diesem Zeitpunkt erst seit wenigen Wochen über ein eigenes Rennrad verfügte, wie sie erzählt. Ein klarer Fall von „besser spät als nie“. Dabei ist sie schon länger auf zwei Reifen unterwegs, was 2003 mit ihrem Umzug nach Münster begann. „Ich bin direkt alle Alltagsstrecken mit dem Rad gefahren“, berichtet die diplomierte Kommunikationsdesignerin und fügt lachend ein wichtiges Detail hinzu: „Ich habe dann schnell gemerkt, dass ich etwas schneller und progressiver unterwegs bin als die Durchschnittsradfahrenden auf der Promenade“. Der Grundstein für ihre Leidenschaft zum Radsport war gelegt.
Zuerst wird für Sarah Held das Mountainbike das Mittel der Wahl. Mit breiten Reifen durch die Wälder zu fahren, das sei für sie von Anfang an eine große Liebe geworden. Touren machen zu können bedeutet gleichzeitig auch einen großen zeitlichen Aufwand. Alltagstauglich ist das Hobby Mountainbikefahren in unserer Region nämlich nicht. Im Münsterland gibt es einfach zu wenige Berge, da müssen schon Ausflüge in den Teutoburger Wald herhalten, erklärt sie. „Mit dem Bike will ich im Gelände fahren. Da muss ich immer ausreichend Zeit für An- und Abreise einplanen“. Wie sich Leidenschaft auf zwei Rädern einfacher ausleben lässt, beobachtete Sarah Held bei ihrem Mann. Er teilt zwar ihre Begeisterung für das Mountainbiken, unter der Woche war er aber auf dem Rennrad unterwegs. Dazu kamen die Schwärmereien einer Freundin, die für Sarah Held zum weiteren Katalysator wurden.
„Wenn wir gemeinsam unterwegs sind, haben wir meistens auch alle Bock zu heizen.“ Sarah Held

Durch einen Zufall erhielt Sarah im August 2022 einen Tipp. Ein Bekannter vom Rennradkollegen ihres Mannes hatte ein Rennrad zu verkaufen, mit dem sie direkt eine kleine Probefahrt unternahm. Es war Liebe auf den ersten Blick. „Die Größe war perfekt“, berichtet Held mit großer Begeisterung. „Als ich dann noch das Funkeln in den Augen der Jungs sah, wusste ich, dass ich bei diesem Angebot zuschlagen muss“. Das tat sie umgehend. Seitdem ist sie von ihrem zwar schon ein paar Jahre alten, aber ultraleichten Carbon-Rad der Marke Cannondale nicht mehr zu trennen. Von ihrem „kleinen Flitzer“, wie sie das Rad nennt.
„Der darauffolgende Sommer hat sich mit unzähligen Rennradtouren endlos angefühlt“, erzählt die Jetzt-Rennradfahrerin begeistert. Alle paar Tage ging es raus auf die Straße, es wurden unzählige Kilometer gesammelt. Dafür sei die Geographie des Münsterlandes ideal, wie Held berichtet. Anders als im Teutoburger Wald ist es hier vergleichsweise flach mit moderaten Steigungen. „Es gibt etliche Strecken, kleine Landstraßen und Alleen, die alle ihren Charme haben“, berichtet Held. Wenn Wetter, Lust und Laune stimmen, könne sie einfach „aus der Haustür in ein Rennrad-Paradies rollen“.
Ein Paradies, das immer mehr Menschen in und um Münster zu schätzen wissen, denn der Rennradsport boomt. Waren es früher die populäre Tour de France, die Millionen Menschen auf die Rennräder lockte, ist der Grund für den erneuten Trend auch in der Corona-Pandemie zu finden. Viele Menschen wollten sich sportlich betätigen, in der Natur auf zwei Rädern klappte die Einhaltung von Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen besonders gut. Als Überbleibsel dieser Epoche bestehen weiterhin viele Rennrad-Gruppen, die sich regelmäßig zu Ausfahrten verabreden. Die Idee war also keine Neue, die im Herbst 2022 an den Tischen der Gaststätte Mutter Birken besprochen wurde. Allerdings wollte die Gruppe bewusst andere Maßstäbe setzen. Während in vielen Gruppen mit 40–50 Teilnehmenden eine gewisse Anonymität vorherrsche, sollte ihre Gruppe auch einen Freundeskreis darstellen.


„Wir pendeln uns zwischen 15 und 20 Personen ein“, verrät Sarah Held. „Das ist ideal um den freundschaftlichen Charakter, der uns verbindet, auch zu bewahren“. Alle seien ohnehin nicht bei jeder Fahrt mit dabei. Bei bitterkalten Temperaturen bleibt ein „harter Kern“ von drei bis vier Leuten eisern im Sattel – im Sommer vervielfacht sich die Zahl der Teilnehmenden natürlich. Doch egal ob zu viert oder mit zwei Dutzend Rennradbegeisterten: Der regelmäßige Termin am Mittwoch steht felsenfest. Einige Standardrouten hat die Gruppe mittlerweile, aber Ideen für neue Strecken sind immer willkommen. „Wir haben einige engagierte Fahrerinnen und Fahrer dabei, die auch immer mal etwas Neues vorschlagen“, berichtet Sarah Held und weist dabei noch auf die hohe Frauenquote hin. „Es freut mich natürlich sehr, dass bei uns nicht nur die Männer den Ton angeben“.
Ich bin froh um diesen Ausgleich: Bewegung, frische Luft, Konzentration, Natur, nette Leute, Ausdauer und Auspowern.“ Sarah Held

Sich auf eine Strecke festzulegen sei dann immer eine kleine Wissenschaft für sich. „Dann wird vor der Fahrt auch nochmal die Windrichtung überprüft, damit wir alle fröhlich und am liebsten mit Rückenwind wieder zurück in die Stadt fahren können“, so Held. Meistens fährt die Gruppe dann 60 bis 70 Kilometer, bei schlechtem Wetter auch mal nur 40. Genauer festgelegt ist allerdings das Durchschnittstempo, bei dem alle gut mithalten können. In Zahlen bedeutet dies ambitionierte 30 bis 32 Kilometer pro Stunde im Durchschnitt. Darauf hat sich die Gruppe geeinigt, die von der sportlichen Zielsetzung her sehr heterogen ist, wie Sarah Held erklärt. „Ich bin im vergangenen Jahr 3.000 Kilometer gefahren. Das ist kein Vergleich zu einigen Mitgliedern, die auf ein Vielfaches kommen – auch weil sie regelmäßig für Amateur-Rennen trainieren.“ Selbst hat sie auch schon zweimal beim Münsterland Giro (immer am 3. Oktober) teilgenommen – allerdings recht spontan; einmal sogar mit einem Platz auf dem Treppchen (lacht). Ausfahrt oder Rennen, unterschiedliche Leistungsklassen und sportliche Ziele - Sarah Held ordnet mögliche Unterschiede so ein: „Wenn wir gemeinsam unterwegs sind, haben wir meistens auch alle Bock zu heizen“. Wichtig seien dabei auch die Sicherheit und das Vertrauen auf die anderen Teilnehmenden, gerade, wenn das Tempo und die Gruppe in Richtung Spitzengeschwindigkeit rollt. Bergab bedeutet das schonmal bis zu 60 Stundenkilometer auf dem Tacho. „Es ist schon hilfreich, wenn man in einer eingespielten Gruppe fährt, den Hintern des Vorwegfahrenden kennt und das Fahrverhalten einschätzen kann“, so die Rennradfahrerin. Wenn Sarah Held nicht gerade in der ersten Reihe der Gruppe gegen den Fahrtwind ankämpft, kann sie abschalten. Das Radfahren hat dann etwas Beruhigendes, beinah Meditatives, erklärt sie. „Durch meine Selbstständigkeit mit eigener Agentur, mit vielen Terminen und Gesprächen bin ich sehr froh um diesen Ausgleich: Bewegung, frische Luft, Konzentration, Natur, nette Leute, Ausdauer und Auspowern“. Und es ist ein guter Ausgleich von ihrer kreativen Tätigkeit – die sie auf dem Fahrradsattel aber nicht vollständig hinter sich lassen kann. Wenn sie an einer ikonischen Landschaft vorbeifährt oder einen schönen Sonnenuntergang sieht, macht sie gerne den ein oder anderen Schnappschuss.

Die Fotos werden nach der Tour auf Strava geteilt, einer App, die sich als Logbuch oder „Instagram für Sportlerinnen und Sportler“ beschreiben lässt. Touren können geteilt und mit Fotos versehen werden. Auch für Statistikfüchse finden sich hier hilfreiche Daten wie gefahrene Kilometer, Höhenmeter, Durchschnitts- und Höchstgeschwindigkeit. Auch Vergleichszahlen, wie andere RennradfahrerInnen auf passierten Streckenabschnitten gefahren sind. Wer eine neue Bestzeit hinlegt, bekommt eine virtuelle Auszeichnung. Ein kleiner Bonus, aber nicht das Wichtigste für Sarah Held. Sie freue sich viel mehr darüber, gelegentlich durch ihren Strava-Feed (die persönliche Bilder- und Datenfolge in der App, Anmerkung der Redaktion) zu scrollen und sich an vergangene Touren zu erinnern.

Wie der Startpunkt ist auch das Ziel, zumindest in den kälteren Monaten, vorher festgelegt. Meistens geht es in die Räumlichkeiten ihres Stammlokals Mutter Birken ins Kreuzviertel. Im Sommer wird auch mal variiert, wo die Reise hingeht – gerne an die Kioske rund um den Hansaring. Gelegentlich trifft die „Mutter Birken“-Gruppe dann auch auf andere, in ihren Sportoutfits schwer zu übersehende Rennrad-Gruppen. Schnell kommen die Radsportbegeisterten ins Gespräch mit anderen.
Mit einem Getränk in der Hand wird gefachsimpelt und die Gemeinschaft genossen, gerne bis die Sonne schon längst hinter den Häusern verschwunden ist. Dann kommen auch die Momente, um kurz innezuhalten. Sarah Held freut sich über das große Privileg, das Hobby gemeinsam mit ihren FreundInnen und besonders mit ihrem Mann ausüben zu können. „Das sehen wir als sehr großes Geschenk in unserer Beziehung an, dass wir diese Leidenschaft teilen“, sagt sie zufrieden. „Es ist einfach ein Sport, der mich sehr, sehr glücklich macht“.