MÜNSTER! Magazin

Bildnachweis: Museum Folkwang Essen – Artothek 17

Oktober 2020 N°95


Liebe, Hass, Gewalt, Ekstase

Große Gefühle und große Namen: Die kommende Ausstellung Passion Leidenschaft. Die Kunst der großen Gefühle des LWL Museums für Kunst und Kultur zeigt vom 9. Oktober bis zum 14. Februar weltbekannte Werke namhafter Künstlerinnen und Künstler. Egon Schiele, Rubens, Dürer, Käthe Kollwitz, Berlinde De Bruyckere und zahllose weitere Künstlerinnen und Künstler haben die Leidenschaft in ihr Werk geflochten. Dr. Petra Marx, Kuratorin am LWL-Museum, hatte schon 2013 die Idee zur Ausstellung, die die Geschichte der Passion in der Kunst zeigt. Seit 2017 plant sie sie konkret. Eine Besonderheit der Ausstellung ist der bewusst hohe Anteil an Künstlerinnen, deren Werke hier gesammelt wurden. Armin Willems aus der Redaktiond es MÜNSTER! Magazins hat mit Marx über Erotik,Gewalt und Läuterung gesprochen.

Text Armin Willems


Frau Dr. Marx, Sie sind am LWL-Museum für Kunst und Kultur primär für das Mittelalter zuständig. Sind in „Passion Leidenschaft“ also hauptsächlich mittelalterliche Kunstwerke zu erwarten? Nicht hauptsächlich. Mittelalterliche Kunst ist natürlich Teil der Ausstellung, aber sie kommt hier genauso vor wie zeitgenössische Kunst, die Kunst der Antike, der Renaissance und des Barock. Das ist eine Besonderheit an dieser Ausstellung: Die Leidenschaft wurde noch nie über eine so große Zeitspanne in einer Ausstellung thematisiert. Das älteste Werk der Ausstellung ist eine Vase mit einer tanzenden Mänade von ca. 350 vor Christus. Damit decken wir einen Zeitraum von 2.370 Jahren ab. Worum geht es in den letzten 2.370 Jahren Leidenschaft in der Kunst? Welche Rolle spielen Erotik oder Gewalt für den Leidenschaftsbegriff? Heute wird Leidenschaft oft mit Erotik gleichgesetzt, uns geht es aber darum, alle starken Emotionen zu zeigen. Auch wenn das wissenschaftlich vielleicht nicht ganz einwandfrei ist: Leidenschaft ist für uns Liebe, Hass, Eifersucht, Wut, Verzweiflung, Entzücken und Ekstase. Uns geht es dabei vor allem um die Emotion, die durch Körperlichkeit und Mimik ausgedrückt wird, nicht um den Ausdruck von Emotionen durch Formen und Farben. In der Ausstellung wird deutlich, was eigentlich seit der Antike klar, aber vielen weniger bewusst ist: Körpersprache ist das stärkste Medium für Leidenschaft. Ernst Ludwig Kirchner, Farbentanz I. Entwurf für den Festsaal im Museum Folkwang, 1932.

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Pauwels Franck, gen. Paolo Fiammingo, „Amori“: Il frutto dell'amore (Die Leidenschaft), 1585/89,© KHM-Museumsverband

Wir haben uns übrigens ausdrücklich dagegen entschieden, pornographische Inhalte zu zeigen. Das war mir selbst wichtig, denn ich halte das für total überflüssig. 

Das klingt sehr umfassend, kann aber vielleicht auch überwältigend wirken. Ist die Ausstellung familien- und kindgerecht? Ja, über dieses Thema haben wir auch mit der Kunstvermittlung intern gesprochen. Es ist in der Tat so, dass einige Werke eventuell für Kinder nicht so tauglich sind. Über diese Werke werden wir an der Kasse informieren, möglicherweise wird es auch umfassendere Informationen zur Ausstellung am Einlass geben, als sonst üblich, damit jeder weiß, was zu erwarten ist. Andererseits konsumieren Jugendliche heute viel heftigere Sachen, als wir hier zeigen. In den großen Museen der Welten hängen viele grausame Kunstwerke. Am Louvre steht ja auch kein Warnhinweis „Achtung, Gewalt!“. Gerade im Barock war es Absicht, die Gläubigen zu erschüttern, mit dem was ihnen gezeigt wird. Das kann für uns heute auch noch erschütternd wirken. 

Gehörte es also früher – in vermeintlich „prüderen“ Zeiten – zum guten Ton, die Betachter abzustoßen? Oder hat solche Kunst damals möglicherweise Skandale erzeugt? Da hatte man keine Bedenken. Im Gegenteil, man wollte einen Schock hervorrufen. Eines der besten Beispiele dafür ist das furchterregende Haupt der Medusa mit viel Bluten, wilden Schlangen und dem starren Blick der Toten. Der Eigentümer hatte das Bild hinter einem Vorhang verborgen. Es ging darum, den Vorhang wegzuziehen, wodurch ein Schrecken erzeugt wurde und eine anschließende Katharsis stattfinden konnte. Dem rein physiologischen Schrecken folgt die Erkenntnis, eigentlich nicht in Gefahr zu sein, sodass die Läuterung einsetzt. Das ist ein Effekt, mit dem auch Filme und Musik arbeiten. 

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„Heute wird Leidenschaft oft mit Erotik gleichgesetzt, uns geht es aber darum, alle starken Emotionen zu zeigen.“ Die Kuratorin der Ausstellung: Dr. PETRA MARX

Sie sagen selbst, wir sind heute Schlimmeres gewohnt. Haben die meisten Menschen überhaupt noch eine Chance auf diese Form der Katharsis? Ich glaube schon. Ich hoffe zumindest, dass wir den Besuchern dieses Erlebnis bieten können. Im Museum wird so etwas ja auch gesucht. Menschen sind trotz – oder vielleicht gerade wegen – der medialen Reizüberflutung und gespielter Gefühle auf der Suche nach echten Emotionen. Wenn ich ins Museum gehe, öffne ich mich bewusst für die Eindrücke, die da auf mich warten. Deswegen ist diese Ausstellung für uns auch so wichtig: Wir wollen die Menschen zum bewussten Erleben ihrer Emotionen vor Kunstwerken bringen. Natürlich sind Kunstwerke in verschiedenen Zeiten zu verschiedenen Zwecken angefertigt worden: Sie sollten Geschichten erzählen, vielleicht auch politische Botschaften übermitteln und waren nicht immer zum emotionalen Erleben gemacht. Aber Kunst arbeitet grundsätzlich über die Emotion und das wollen wir den Menschen ins Bewusstsein rufen. 

Ist es nicht bedenklich, dass wir uns über die Betrachtung von Gewalt so sehr mental „reinigen“, dass der erzeugte Schrecken als wünschenswert gilt? Da muss man unterscheiden zwischen echter und inszenierter, zwischen gefilterter und ungefilterter Gewalt. Wenn ich mir die Demonstrationen in Belarus ansehe, wo echte Gewalt zwischen Menschen herrscht, und ich schaue mir die Medusa an, also inszenierte, gefilterte Gewalt, dann reagiert der Körper zunächst gleich. Aktuelle Theorien dazu besagen, dass erst nach der körperlichen Reaktion auf die gesehene Gewalt eine emotionale Einordnung einsetzt. Im zweiten Schritt, also der emotionalen Einordnung, begreife ich erst, ob die Gewalt inszeniert oder echt ist. Bei inszenierter Gewalt tritt dann hoffentlich die Katharsis ein, bei echter Gewalt üblicherweise nicht. Ich bin darum zuversichtlich, dass wir diese Läuterung bei uns im Museum auch erzeugen können.

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Rembrandt van Rijn,Selbstbildnis mitaufgerissenenAugen, 1630,Graphische Sammlung,Städel MuseumFrankfurt amMain, Foto: © StädelMuseum - U. Edelmann- Artothek
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Otto Dix,Verspottung Christi,1948, ZeppelinMuseum Friedrichshafen.© VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Bei mindestens einer Person wird diese Ausstellung für Emotionen sorgen: Sie haben die Idee seit 2013 im Kopf und arbeiten seit 2017 intensiv daran. Jetzt ist es soweit und in vier Monaten wird das Projekt Vergangenheit sein. Wie ist das für Sie? Also ganz Vergangenheit ist es dann nicht. Wir werden dann einen tollen Katalog entwickelt haben, der einen neuen Beitrag zur Emotionsforschung bezogen auf die Kunst darstellt. Trotzdem ist das eine sehr emotionale Angelegenheit. Das greift mich auch mehr an als rein professionell gut wäre. Dieses Projekt hat mich sehr gefordert, macht mich aber auch sehr glücklich, denn es ist nicht selbstverständlich, dass ich die Ausstellung machen konnte. Ich bin hier die Mittelalter-Kuratorin. Insofern hatte ich Glück, dass ich die Gelegenheit bekommen habe, diese anspruchsvolle Ausstellung umzusetzen. 

Vielen Dank!