MÜNSTER! Magazin

Foto: Patrick Schulte/Stadt Münster

Oktober 2020 N°95


Mobil in Münster

Fahrradfahrer im Entenmarsch an der Hammer Straße, ein zugeparktes Kreuz­viertel, Chaos am Ludgerikreisel. Auf der anderen Seite die Präsen­tation von Velorouten und LOOP, der individuelle Busverkehr, der deutschlandweit Schule machen kann. Münster versucht die Mobilitätswende. Zum Auftakt der neuen MÜNSTER!-Serie die Sicht zweier Verkehrsexperten.

Text Cornelia Höchstetter


Es gibt einen Plan. Schon im Februar dieses Jahres hat die Stadt Münster den Masterplan Mobilität Münster 2035+ vorgestellt. In den Stadtwerken ging es einen Abend lang um die Mobilitätswende und um stadtverträgliche Mobilität. Kein weites, ein unendliches Feld.  Schließlich soll der Masterplan alle Verkehrsteilnehmer, Stadtbewohner, Pendler, Kaufleute, Touristen und Gäste unter einen Hut bekommen. Alle wollen sich bewegen. Immer noch am liebsten mit dem Rad und mit dem Auto. Klar, dass es da zu Nutzungskonflikten kommt und der Fußgänger fast auf der Strecke bleibt. Zudem da noch die Ziele für den Klimaschutz sind. Die Fragen also: Was ist stadtverträglich, was ist sozialverträglich, was ist umweltverträglich und wie bleibt die Stadt lebenswert und wirtschaftlich erfolgreich? In den nächsten Ausgaben von MÜNSTER! kümmern wir uns regelmäßig um die verschiedenen Gruppen der Verkehrsteilnehmer, um die Verkehrsmittel und um Münsters Problemzonen.   

Was sagen die Mobilitätsexperten? 

Zum Auftakt der neuen MÜNSTER!-Serie analysieren zwei Verkehrsexperten die Gesamtsituation: Thorsten Knölke vom ADFC Münsterland und Dr. Samuel Mössner, Professor am Institut für Geographie der Universität Münster und Mitglied der Arbeitsgruppe Raumplanung und Nachhaltigkeit. Letzterer findet den Masterplan Mobilität Münster 2035+ an sich mehr als spannend. „Es ist ein total konstruktiver Moment“, sagt der Wissenschaftler und fragt sich aber: „Wie führen wir das in den nächsten 15 Jahren und darüber hinaus weiter?“ Für ihn ist das Thema in der Stadtgesellschaft noch zu wenig verankert. „Für meinen Geschmack wird noch zu wenig über die verkehrliche Mobilität diskutiert. Die Bürgerschaft ist noch zu wenig eingebunden, auf der stadtgesellschaftlichen Ebene werden die vielen Experten, die sich mit den verschiedensten Themen be­schäftigen, noch zu wenig gehört.“  

Kostenloses Parken

Die Wissenschaft schaut in der Verkehrsplanung auf den fließenden wie auf den ruhenden Verkehr. Ein privat genutztes Auto steht im Schnitt 23 Stunden pro Tag einfach nur herum. Und da spricht nicht nur der Wissenschaftler, sondern der münstersche Bewohner Mössner: „Im Kreuzviertel merkt man deutlich, dass hier eine hohe Toleranz gegenüber den Parkraumsuchenden gelebt wird.“ Im Kreuzviertel wie in anderen Wohngebieten parken Autos auf Gehwegen oder blockieren Raum für Fußgänger und Fahrradfahrer, ohne dass Parkgebühren anfallen, geschweige denn Strafzettel verteilt werden. Diese Toleranz geht aber zu Lasten der Schwächsten: ältere Menschen mit Rollatoren, Eltern mit Kinderwagen, Rollstuhlfahrer oder Anwohner, die einfach nur nebeneinander gehen wollen und sich unterhalten. Das ist kaum möglich, weil kein Platz auf dem Gehweg ist. „Das ist eine falsche Toleranz, eher Intoleranz. Oder Toleranz für nur einen Verkehrsträger, nämlich für das Auto“, betont Mössner. „Ich war sehr überrascht, als ich 2017 von Freiburg nach Münster gezogen bin, dass es hier keine Parkraumbewirtschaftung in den Wohnvierteln gab!“ Das habe Freiburg der Stadt Münster voraus.

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Immer mehr: Die Zählung der Radfahrer auf der Promenade (Zählstelle Nähe Salzstraße) ergaben: 2019 - 13.982 täglich, 2018 waren es noch 12.768 und im Jahr 2017 11.023. Foto: Cornelia Höchstetter

Stadt der Fahrräder … und Autos  

Wie ist die aktuelle Lage? Es gibt einen hohen Fahrradfahrer-Anteil im Modal Split von Münster (39 Prozent, erklärtes Ziel der Stadt sind 50 Prozent) und einen hohen Autoanteil von 29 Prozent. Das bezieht sich nur auf den innerstädtischen Verkehr! Klein ist der Anteil der Fußgänger (22 Prozent) sowie der niedrige ÖPNV-Anteil von zehn Prozent. Münster ist mit seinem Fahrrad-Anteil immer noch bundesweit führend. Auch wenn sich die Gesamtlänge der Radwege von 2010 (458,85 Kilometer) auf 2019 (479,56 Kilometer) nicht sehr vergrößert hat. „Münster ist eine Autostadt“, findet Thorsten Knölke vom ADFC. Auch Mössner sagt „Fahrrad- und Automobilstadt“ zu Münster. Beide kritisieren, dass die vorhandenen Radwege nicht dem heutigen Anspruch einer Fahrradstadt genügen: zu schmal, zu holprig. Für den Lastenrad-Trend (siehe ab Seite 39) nochmal eine eigene Herausforderung. Und es gibt zu viele Fahrradwege mit Benutzungspflicht. „In der Wolbecker Straße hat man das aufgelöst. Am Ende fährt die Mehrheit auf dem Radweg, aber einzelne schnellere Radfahrende haben die Möglichkeit, auf die Straße zu wechseln“, erklärt Thorsten Knölke. Was in den Augen des ADFC immer noch stiefkindlich behandelt wird, sind die Fahrradparkhäuser. Die Radstation Münster am Bahnhof schließt um 23 Uhr. Wer mit dem Zug am Sonntag spät abends den Wochenendtrip beendet, hat keine Chance, an sein Fahrrad zu kommen. „In den Niederlanden sind die Fahrradparkhäuser zum einen rund um die Uhr geöffnet und zudem die ersten 24 Stunden kostenlos“, erzählt Thorsten Knölke.  

Der Blick zu den Nachbarn

Die leuchtenden Beispiele für vorbildliche Fahrradstädte sind Kopenhagen und Städte in den Niederlanden. Houten zum Beispiel: Die Stadt wurde allerdings auch am Reißbrett entworfen und voll und ganz auf Fahrräder ausgerichtet. Anders als Münster. Als in der Nachkriegszeit die Stadt wiederaufgebaut wurde, war das Auto des Deutschen liebstes Kind und alles daraus ausgerichtet. „Da hat man eine gewisse Autoabhängigkeit geschaffen, die bis heute hält“, sagt Thorsten Knölke. Dabei hatte Münster schon in den 1970er Jahren die Förderung des Fahrradverkehrs als verkehrspolitisches Ziel formuliert. Man sicherte den Radverkehr an Ampeln und Knotenpunkten, in den 1980er Jah­ren öffnete man die Einbahnstraßen für Fahr­radfah­rer. Die Anzahl der Fahrrad­fahrer hat sich in einigen Straßen von 1972 bis 1984 etwa vervierfacht. Münster war Vorbild. Aber dann – ist Münster stehen geblieben … ?    

(Zu?) Langsam wächst der ÖPNV

Dem Modal Split zufolge nutzen nur zehn Prozent den ÖPNV, der in Münster überwiegend aus Bussen besteht. „Die zehn Prozent Busverkehr sind im Vergleich zu anderen Städten sehr gering. Das begründet sich auch damit, dass Münsters Stadt­gebiet flächenmäßig fast mit dem Stadtgebiet von München zu vergleichen ist“, sagt Knölke. Münster hat auf 303 Quadratkilometern etwa 315.000 Einwohner. München hat eine Stadtfläche von 310 Quadratkilometern und 1,5 Millionen Einwohner. Einige von Münsters Stadtteilen wie Sprakel, Roxel oder Amelsbüren sind wie Satelliten in der Peripherie. Das macht ein enges ÖPNV-Netz nicht einfacher. Klar, dass viele in das Auto steigen. „Münster erstickt in Autos“, findet Thorsten Knölke. 2009 waren in Münster 124.037 Pkw zugelassen, 2020 sind es 147.332 Pkw.

Die Mobilitätswende ist im Ansatz erkennbar: Der ÖPNV soll gestärkt werden, LOOP rollt und wird unterstützt mit einer Fördersumme von fünf Millionen vom Land NRW sowie drei Millionen von der Stadt Münster. 40 neue Fahrer und Fahrerinnen sind im Einsatz. Nur war ursprünglich der Plan größer angekündigt: So sollte der kleine Bus ein Zubringer zu Metrobuslinien sein, die auf direktem Weg über die großen Stadteinfallsstraßen in die Innenstadt fahren. Angedacht war ein so dicht vernetzter ÖPNV-Verkehr. Aber auf den Probe-Einsatz eines Metrobusses (24 Meter langer Bus mit zwei Gelenken) wartet Münster noch. „Das Pro­blem ist, dass Busse kaum eigene Spuren haben, damit auch im Stau stehen und mit einem Durchschnittstempo von 15 Stundenkilometer wenig attraktiv sind“, findet Thorsten Knölke. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück und wieder einer vor: Eine Wiederbelebung der Westfälischen Landes-Eisenbahn (WLB) ist beschlossen, ab 2023 sollen alle 20 Minuten Züge zwischen Sendenhorst über Albersloh und Gremmendorf nach Münster fahren.  

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Thorsten Knölke vom ADFC Münsterland und Mitinitiator der Ortsgruppe Münster von fuss-ev.de Foto: Privat

Zurück zu den Stadtfunktionen 

Parkende Autos machen eine hohe Aufenthaltsqualität unmöglich. Die künftige Verkehrsplanung soll aber die klassischen Funktionen der Stadt zusammenbringen: Wohnen, arbeiten, sich versorgen, sich bilden, sich vergnügen. „Noch erkenne ich das nicht, lasse mich aber gerne von der künftigen Verkehrsplanung überraschen“, sagt Mössner. „Es ist ja nicht nur ein Verlust, wenn Autos aus bestimmten Bereichen entfernt werden. Woanders sind so neue Lebensräume in der Stadt entstanden, hochattraktiv für Bewohner und Einzelhandel.“ Völlig unzeitgemäß findet Mössner ein Leitbild, das alle Verkehrsträger gleich­er­weise berücksichtigt. „Zumal es eine Gleich­­­­be­rech­tigung vorher auch nie gab, was die aut­oorien­tierte Situation im Kreuzviertel beweist.“ Also plädiert der Wissenschaftler: „Eine nachhaltige Verkehrswende schafft viele neue Möglichkeiten. Bisweilen wird sie aber auch wehtun. Es ist nicht mehr zeitgemäß, immer noch zu behaupten, dass alle Verkehrsteilnehmer zufrieden sein werden. Das hätte man gerne, ist aber nicht machbar. Es wird weh­tun müssen …“ Weh tut es heute schon – den Fahrradfahrern auf der Hammer Straße. Man spürt körperlich, wie man bedrängt wird, weil ein Überholen fast unmöglich ist oder an einem Autoaußenspiegel endet. Richtig eng wird es, wenn der Radweg kurz vor dem Ludgerikreisel auf der Autofahrbahn landet. „Wie kann eine solche Situation im Jahr 2020 noch existieren?“, fragt sich der Professor der Geographie.

Eine Vereinbarkeit aller Verkehrsteilnehmer ist unmöglich. Es ist zu wenig Platz für alle und die Häuserreihen kann man nicht verschieben. Also muss der Straßenraum neu verteilt werden – zumal da ja noch die Strecke eines Metrobusses angedacht ist. Der fließende und ruhende motorisierte Individualverkehr (MIV) muss verändert werden. „Wenn ich dann frage, wo kommen eigentlich all die Autos her, bin ich ganz schnell bei den Pendlern“, sagt Professor Mössner. Laut der städtischer Statistik gibt es täglich 360.000 Pendlerfahrten, 80 Prozent davon mit dem Auto. „Daraus entsteht schnell die Forderung: Der Masterplan muss ein regionaler sein und nicht nur ein städtischer! Und das ist er noch nicht. Zumal man dafür einen leistungsfähigen ÖPNV braucht, den wir momentan auch nicht haben“, sagt Professor Mössner. Hier kommen auch die Velorouten ins Spiel: Die 14 Velorouten, die gefühlt schon ewig geplant werden, sind jetzt in der Umsetzung. Telgte-Münster ist in Bau. Der Verlauf der Veloroute nach Everswinkel war eine Zeitlang heftig umstritten: Eine Teilstrecke sollte durch den Wald führen. „Alle Frauen, die ich kenne, würden im Dunklen niemals alleine durch den Wald fahren. Auch nicht, wenn die Strecke beleuchtet ist“, warnt Thorsten Knölke. Apropos beleuchtet: Die dynamische Beleuchtung wurde 2019 am Kanal in Hiltrup getestet, nun folgen Laternen von Hiltrup bis Senden, die dann aufleuchten, wenn ein Fahrrad auf der Strecke ist. Ein Großteil der Masten steht schon.

Was machen Karlsruhe und Freiburg, die auch die Versorgungsfunktion fürs Umland haben? Im Unterschied zu Münster haben die beiden Städte laut Professor Mössner viel daran gearbeitet: Sie haben ihr ÖPNV-Netz vergrößert, signifikante Einfallstraßen verkehrsberuhigt und neue Wohngebiete mit eingebunden. In Münster entstehen derzeit viele neue Stadtquartiere – ein schlüssiges Verkehrskonzept erkennt Professor Mössner bisher nicht. Ganz zu schweigen von innovativen Ansätzen wie Quartiersparkhäusern, die die parkenden Autos vom Straßenrand holen – so in Freiburg oder Tübingen realisiert. 

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Bürgersteig ohne Bürger: Für Fußgänger bleibt im Kreuzviertel kein Platz. Foto: Cornelia Höchstetter

Mobilitätswende  

Mit zur Mobilitätswende gehört auch das Car-Sharing. In Münster ist das Stadtteilauto längst erfolgreich. Relativ neu ist Wuddi, ein weiteres Carsharing-Projekt. Damit Carsharing den (ruhenden) Verkehr reduziert und noch besser von den Bewohnern angenommen wird, fordert Mössner ein generelles Sonderrecht zum Parken von Stadtteilautos im öffentlichen Straßenraum. In Köln gebe es das, in Freiburg auch, in Münster nicht. Was auch fehlt: Ein gut integriertes Park-and-Ride-System vor der Stadt, das die Pendler reibungslos und ohne Zeitverlust in die Busse für die letzten Meilen setzt. „Dabei hat sich im vergangenen Advent das temporär eingerichtete Park&Ride-Konzept sehr positiv bewährt!“, weiß Thorsten Knölke.  Die großen Arbeitgeber, private wie öffentliche, sind gefragt, den Mobilitätswandel zu unterstützen. Job-Fahrrad, Jobtickets – zahlreiche kleine Instrumente gibt es längst. „Die ganz großen Themen wären natürlich kostenloser ÖPNV oder autofreie Innenstadt. Die werden mit einfachen Argumenten weggewischt: Etwa weil alle Parkhäuser innerhalb des Ringes gebaut sind. Da wissen wir doch alle, das kriegen wir hin und können neue Parkhäuser bauen“, findet Mössner. Viel interessanter als diese großen Themen findet er aber die Instrumente und Ansätze, „die schon vor uns liegen, mit denen man auch so vieles steuern könnte. Was macht der Masterplan Mobilität Münster 2035+ denn damit?“, fragt sich Professor Mössner. Wie weit werden Planungen über 2035 hinausgreifen? Wie sehen dann Wohnen, Arbeiten und der Aufenthalt in der Stadt aus? Das sind eher Fragen, die ich an die Verkehrsplanung hätte!“