MÜNSTER! Magazin

Stellt sich für das Foto vor die Kliniktür: Professor Seifert. Foto: Katrin Jäger

September 2021 N°105


Hinterm Zaun

Professor Dr. med. Dieter Seifert ist Gutachter, Dozent, Ärztlicher Direktor des Alexianer-Campus in Amelsbüren – und Chef der forensischen Christophorus-Klinik. Dem MÜNSTER! Magazin gewährte er einen Blick hinter den 5,50 Meter hohen Zaun der Psychiatrie. Wie läuft der Alltag in einer Einrichtung ab, in der die meisten Patienten schwere Straftaten begangen haben und zugleich intelligenzgemindert sind?

Text Katrin Jäger


Das Klischee bröckelt schon vorm Eingang. Statt hoher Mauern aus Beton, steht dort eine Backsteinfassade, die auch zu einem modernen Kirchenbau gehören könnte. Statt eines bedrohlichen Tores aus grauem Stahl, leuchten einem verschiedene Grüntöne entgegen. Der Empfang durch die Pförtner verläuft äußerst nett. Das Einzige, das einen kurz erschrecken lässt ist die Frage: „Haben Sie eine Bescheinigung über einen Negativtest dabei?“ Nein. Aber auch das ist kein Problem. Kann man hier machen. Vor Ort. Und vor Ort bedeutet in diesem Fall: In der forensischen Christophorus-Klinik in Amelsbüren. Hier leben 54 Männer, die Straftaten begangen haben: Unter ihnen sind Gewaltverbrecher, Sexualstraftäter oder Brandstifter.

Mit einem Schlüsselbund in der Hand und einem freundlichen Lächeln im Gesicht betritt Klinikchef Dieter Seifert den kleinen Raum im Eingangsbereich. Er geht voran. Nachdem er eine Tür aufgeschlossen hat, eröffnet sich der Blick auf den inneren Bereich der Psychiatrie. Hier sieht es aus wie in einem kleinen Dorf. Erst wenn man sich wieder dem Ausgangstor zuwendet, gerät der Zaun in Sicht. Unüberwindbare 5,50 Meter ist er hoch, das Stahlgitter ist so klein gerastert, dass man nicht einmal mit den Fingern hineingreifen könnte, oben sorgt massiver Stacheldraht für Ausbruchssicherheit. Die Botschaft ist klar und deutlich: Hier kommt keiner raus!

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Freundliche Fassade: Der Eingangsbereich der forensischen Christophorus-Klinik. Foto: Verena Anne Ahrens

„Wir haben einen Wall angelegt“, erklärt Seifert. So könne man die Höhe des Zauns ein wenig kaschieren. Denn auch wenn die Menschen hier in der Christophorus-Klinik de facto eingesperrt sind, soll dennoch eine therapeutische Atmosphäre herrschen. So spricht man hier auch nicht von Gefangenen, sondern von Patienten.

Routiniert führt Professor Seifert über das Gelände. Er hat schon viele Rundgänge durch seine Klinik gemacht. Die Menschen interessieren sich für das, was hier vorgeht. Rund 25.000 haben inzwischen hinter den Zaun der Forensik geblickt.

Seit zehn Jahren ist die kleinste forensische Klinik Deutschlands nun schon in Betrieb und Seifert war von Anfang an dabei. Er war schon in die Planungen mit eingebunden und hat wesentlich dazu beigetragen, dass hier alles so ist, wie es ist. Ein Beispiel ist das schon beschriebene große Kliniktor. Ursprünglich war es grau und wirkte wie ein Mahnmal. Seifert lud daraufhin die Fachhochschule für Design ein, die Gestaltung zu übernehmen. Dass das Farbkonzept der Kreativen die Preußen-Münster Farben enthielt, war Zufall. Doch es passt hervorragend. Denn Seifert ist Fußballfan. Er spielte mit seinen inzwischen erwachsenen Kindern Fußball, er lernte beim Fußball einen Oberarzt kennen, durch den er seine Fachrichtung Psychiatrie für sich entdeckte und er spielt auch jetzt noch mit seinen Patienten Fußball. „Dort kann man ganz genau sehen, wie jemand ist, wie er sich verhält, wo die Konflikte liegen“, sagt Seifert. Auch in Gesprächen nutzen er und die Bewohner immer wieder den Fußball als kommunikative Brücke. „Gestern das Bielefeld- Spiel, naja.“ Alle lachen.

 

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In den Werkstätten der Klinik lernen die Patienten eine Tagesstruktur kennen. Sie können töpfern oder mit Holz arbeiten. Das Werkzeug muss nachher eingeschlossen werden. Foto: Katrin Jäger
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Foto: Katrin Jäger
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Der Gemeinschaftsraum im Wohngruppen-Haus. Kicker, Fernseher, Sofa – fast wie in einer normalen Wohnung. Foto: Katrin Jäger

Ob er sich – bevor es weitergeht – für das Foto einmal kurz vor das grüne Tor stellen könne? Na, klar. Geduldig lächelt Seifert in die Kamera und grinst über die Bemerkung, dass sein blauer Blazer und die Jeans sich wirklich gut vor dem kräftigen Grün machen. Seifert strahlt nicht nur während des Fotografierens eine fröhliche Gelassenheit aus. Auch als wenige Minuten später ein Alarm auf seinem Telefon schrillt, bleibt er ganz ruhig. Er fragt kurz einen vorbeilaufenden Mitarbeiter, ob alles okay sei. „Ja“, sagt der. Die Situation sei im Griff. Seifert nickt nur.

Ruhe und Gelassenheit sind Eigenschaften, die Seifert sowohl im Umgang mit den zum Teil aggressiven Patienten aber auch im Umgang bei den immer selben Diskussionen helfen, die er zu führen hat. Natürlich kennt Seifert den Vorwurf, dass in einer Psychiatrie Straftäter für viel Geld therapiert würden, während die Opfer leer ausgingen. Er weiß auch, dass eine Einrichtung wie seine Klinik den Menschen Angst macht. Doch was, so fragt er rhetorisch, wäre die Alternative. „Sollen wir die Leute bei Wasser und Brot in den Keller sperren?“ Das, was man in den forensischen Kliniken und im Strafvollzug sehe, sagt Seifert, „ist letztlich das Produkt unserer Gesellschaft.“

Und: Wer in der Forensik therapiert wird, wird erwiesenermaßen weniger oft rückfällig. „Die Welt wird dadurch sicherer“, so Seifert. Eine garantierte Sicherheit – das gehört auch zur Wahrheit – gebe es jedoch nie.

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Blick auf’s Wasser: Die Zimmer sind klein, die Aussicht fast idyllisch. Foto: Katrin Jäger
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Der Zaun ist mit seinen 5,50 Metern Höhe unüberwindbar. Ein Wall im Innern der 6,5 Hektar großen Anlage kaschiert den Anblick ein wenig. Foto: Katrin Jäger

Er lädt immer wieder Kritiker seiner Einrichtung, aber auch interessierte Menschen ein, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Regelmäßig finden Veranstaltungen in den Räumen der Christophorus-Klinik statt. Offenheit, Transparenz – das ist ihm wichtig. Also ist auch beim Rundgang der Blick in alle Klinikgebäude erlaubt. „Beginnen wir mit der Vorzeigestation“, sagt er lächelnd und steuert auf ein Haus zu, in dem die Bewohner in einer Art Wohngemeinschaft leben. Im Vorhof sitzen ein paar Männer unter einem Pavillon und begrüßen Seifert. Zwei jüngere bieten eine Zimmerbesichtigung an. Die Zimmer sehen aus wie Teenagerbuden. Fußballbettwäsche, Poster an der Wand und an einem Schrank kleben jede Menge Fotos von der Familie und dem Hund. Im Gemeinschaftsraum steht ein Kicker, moderne Sofas stehen vor einem Fernseher. „Hier schaut ihr zusammen Fußball?“ „Ja“, sagen sie. Es ist unverkennbar: Die jungen Männer sind stolz auf ihre kleinen Zimmer. Welche Straftat sie begangen haben, sieht man ihnen nicht an.

Immer wieder suchen die Bewohner die Nähe zu Seifert. „Hallo Herr Seifert“, sagen sie voller Respekt. Und: „Ich will aber nicht in die andere Wohngruppe, können Sie da was machen?“. Seifert antwortet freundlich, verweist auf die zuständigen Therapeuten, bleibt unverbindlich und lässt sich nicht auf Diskussionen ein.

In der Klinik leben nur intelligenzgeminderte Menschen. Früher hieß es, man könne sie nicht therapieren. Doch das sieht Seifert anders. Zwar könne man die Minderbegabung nicht aufheben, aber in der Psychiatrie könne man versuchen, die Patienten zu sozialisieren. Denn das hat in ihrem bisherigen Leben oft noch gar nicht stattgefunden. Ziel sei es, dass ein Patient nach der Zeit in der Klinik in einer Wohngruppe draußen in Freiheit leben könne. Und auch das gelingt nicht immer.

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Künstlerin Cony Theis arbeitet mit den Patienten. Sie schätzt die offene Atmosphäre in der Klinik. Foto: Katrin Jäger
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Tümpel, kleine Kirche und ein Weg mit Zaun. Im Innern der Forensik sieht es dörflich aus. Foto: Katrin Jäger
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Professor Seiferts Büro liegt mitten in der Klinik. Manchmal schauen Patienten durch sein Fenster und fragen ihn: „Na, wie war Ihr Urlaub?“ Foto: Katrin Jäger

„Es ist nicht so, dass das Böse isoliert hier drinnen sitzt, während draußen alles gut ist.“ - Dieter Seifert

Im Schnitt bleibt ein Patient acht Jahre, es gibt auch welche, die für immer bleiben müssen. Anders als im Justizvollzug gibt es hier kein festes Entlassdatum. Jedes Jahr entscheidet darüber das Gericht auf Grundlage von externen Gutachtern. Auch Seifert ist Gutachter. Außerdem hält er Vorlesungen vor Jura-Studenten und berichtet ihnen von Praxisfällen. Man ahnt, dass sie ihm gerne zuhören, wenn er von seinen Einschätzungen zu Stefan Raabs Stalkerin oder Christoph Metzelders Freundin erzählt. Denn Seifert ist ein guter Erzähler. Und er ist ein ausgewiesener Fachmann. Bald erscheint im Urban & Fischer-Verlag das „Praxishandbuch Therapie in der forensischen Psychiatrie“, das er zusammen mit drei Kollegen verfasst hat.

Theoretische Grundlagen sind das eine, doch wie sieht es praktisch aus, wenn man jeden Tag mit potenziell gefährlichen Patienten zu tun hat? „Risikomanagement ist ein großes Thema“, so Seifert. Jede kleinste Lockerung auch innerhalb des eingezäunten Bereiches muss sich ein Patient Schritt für Schritt erarbeiten. Voraussetzung dafür sei immer Therapiebereitschaft und Mitarbeit. Selbst in den Gottesdienst, der zweimal pro Woche in der kleinen Kapelle stattfindet, darf nur gehen, wer sich laut Mitarbeiterteam entsprechend verhalten hat. Es gibt Patienten, die schlicht zu aggressiv und damit zu gefährlich für diese kleinen Freiheiten sind. Seifert beschönigt nichts.

Der Klinikchef blickt täglich in Abgründe und doch ist klar: Ihn erfüllt seine Arbeit. Er kennt die Akten seiner Patienten. Er weiß, was sie getan haben, aber auch was sie selbst erfahren mussten. „Da gibt es eine Vielzahl an schlechten Startbedingungen“, sagt er. Wie gehen Eltern damit um, wenn das Kind minderbegabt ist? Wie wird das aufgefangen? Wie kommt ein Mensch damit klar, den Körper eines Erwachsenen, aber die geistige Reife eines etwa Zwölfjährigen zu haben? Was passiert mit Kindern, die Missbrauch, Gewalt oder Drogenkonsum in der Familie erleben mussten? „Zu verstehen, warum jemand eine Straftat begangen hat, bedeute nicht, sie zu entschuldigen“, sagt Seifert klar und deutlich. „Aber es ist auch nicht so, dass das Böse isoliert hier drinnen sitzt, während draußen alles gut ist.“