September 2021 N°105
„Spaß an der Mobilität und Mehrwert für die Innenstadt“
Die Mobilitätswende in Münster ist im Gange – wir haben nach verschiedenen aktuellen Verkehrsprojekten gefragt. Ein Interview mit Robin Denstorff, Stadtbaurat und Leiter des Dezernates für Planung, Bau und Wirtschaft.
Text Cornelia Höchstetter
MÜNSTER!: Ende Juli haben Starkregen und Unwetter viele Orte und Städte verwüstet, Menschenleben und Existenzen gekostet. Keine hundert Kilometer von Münster war zum Beispiel die Stadt Hagen extrem betroffen. Auslöser der Extremwetterlagen ist der Klimawandel. Hat diese Katastrophe einen Einfluss auf die aktuellen Planungen, was eine umweltschonendere Mobilität in Münster betrifft?
Robin Denstorff: Die Ziele bleiben unverändert. Zentrales Ziel ist, unsere gesamte Mobilität so zu organisieren, dass sie künftig sowohl klimaneutral und als auch wesentlich stadtverträglicher ist. Allerdings mussten wir wieder einmal leidvoll erkennen, dass der Klimawandel schon längst da ist und dass wir die Resilienz unserer städtischen Strukturen erhöhen müssen, um die negativen Folgen von Extremwetterlagen zu minimieren. In Münster sind die Folgen des Klimawandels schon länger präsent: die leidvollen Erfahrungen mit Starkregen im Jahr 2014 und das Umkippen des Aasees 2018. Jedes Ereignis, das uns nahe geht, steigert die Bereitschaft, sich aus unserer Komfortzone herauszubewegen.
Münster ist in letzter Zeit bundesweit mehrfach ausgezeichnet – vom ADAC oder für die Fahrradstraßen. Dennoch ist die Kritik der Münsteranerinnen und Münsteraner nicht zu überhören. Wie passt das zusammen?
Das passt sehr gut zusammen, weil wir wahrscheinlich nie fertig mit der Weiterentwicklung unserer Infrastruktur sein werden und deswegen noch viel zu tun haben. Von daher kenne ich keine Stadt der Welt, in der alle Menschen vollständig zufrieden mit der Mobilitätsinfrastruktur sind. Auf der einen Seite sind die Preise eine positive Bestätigung, dass wir auf einem guten Weg sind und dass sich Münsteranerinnen und Münsteraner vorbildlich verhalten, was beispielsweise das Fahrradfahren und das Umweltbewusstsein angeht. Durch die Mobilitätswende wollen wir das Leben in unserer Stadt besser machen und gleichzeitig das Ziel der Klimaneutralität erreichen.
Hat Corona etwas verändert?
Die Epidemie hat definitiv einiges verändert: Wir haben leider im ÖPNV einen erheblichen Rückgang erleiden müssen, aus Gründen des Lockdowns. Inzwischen sind die Zahlen besser, wir liegen aber noch unter den Fahrgastzahlen von vor Corona. Die Telearbeit zu Hause brachte einen erheblichen Rückgang des motorisierten Individualverkehrs. Und auch weniger Radverkehr, was in Münster anders war als in anderen Städten, wo sich die Zahl der Radfahrer vergrößert hat. Bei uns ist das Fahrrad ein Alltagsverkehrsmittel. Wer nicht zur Uni, zur Arbeit oder in die Schule muss, fährt auch weniger Rad.
Gab es auch positive Erkenntnisse?
Ja! Das Thema Homeoffice ist auf der Straße zu spüren, weil weniger los war. Wir bekommen schon jetzt Rückmeldungen von vielen Unternehmen, die perspektivisch daran festhalten wollen, flexiblere Arbeitsmodelle anzubieten. Das könnte weniger Pendelbewegungen auf die Straße bringen, denn der Großteil der Autobewegung in Münster ist die Interaktion zwischen Region und Stadt. Wenn wir uns etwas wünschen dürften, dann wäre das eine Entzerrung der Tagesanfangs- und -endzeiten, damit sich nicht alles im Stau ballt. Auch der Berufsverkehr zu Besprechungen oder Konferenzen wird nach unserer Wahrnehmung wesentlich weniger, weil mehr digitale Veranstaltungen stattfinden.
„ Wir müssen die Resilienz unserer städtischen Strukturen erhöhen, um die negativen Folgen von Extremwetterlagen zu minimieren.“
Der Loop in Hiltrup (ein Konzept zum Nahverkehr auf Bestellung) war ursprünglich in der Testphase in Kombination mit einer Metrolinie angedacht, die von Hiltrup die Menschen über eine zügige Busfahrt in die Stadt bringen soll. Nun läuft die Testphase aber ohne. Macht das Sinn?
Loop ist ein voller Erfolg: Bis heute gab es 140.000 Bewegungen und täglich 500 bis 600 Fahrgäste. Das Pooling, was die zentrale Idee von Loop ist, liegt bei 40 Prozent. Das bedeutet, dass Menschen nicht alleine im Loop sitzen und dass Strecken zusammengelegt werden. Dank der schlauen digitalen Systeme spart das enorm viel Fahrtzeit und Wegstrecken. Wir sind ja alle Gewohnheitstiere und wenn man das Verhalten ändern will, muss erst einmal ein attraktives Angebot vorliegen. Das ist unsere münstersche Haltung zum Thema Mobilität: mit guten Angeboten zu überzeugen, statt mit Verboten. Das hat mit Loop wunderbar geklappt. Über die Loop-App führen die Stadtwerke bald neue Softwarefunktionen ein. Die App zeigt, wenn zeitgleich ein Bus auf der gleichen Strecke als Alternative fährt und macht klar, dass es in dem Fall kein Angebot mit dem Loop gibt. So stehen noch mehr Kapazitäten für notwendige Fahrten mit Loop zur Verfügung.
Das Ziel ist es, dass Loop die Binnenerschließung übernimmt, zur Marktallee oder Westfalenstraße, um auf die starken Buslinien umzusteigen oder zum Hiltruper Bahnhof, wo man in den Zug einsteigt und in wenigen Minuten am Hauptbahnhof ankommt. Das ist ja dann die Metro-Funktion – ein Synonym für eine schnelle geradlinige Achse. Und wir haben über Loop die Anbindung zur Weseler Straße zum Umsteigen. Perspektivisch ist es wünschenswert, nicht nur in Münster-Süd, sondern im ganzen Stadtgebiet die Loop-Fahrzeuge einzusetzen. Schwerpunktmäßig ist Loop ein gutes Angebot für die Stadtteile wie Handorf, Sprakel oder Roxel, um hier die Verknüpfungen zu verbessern. Das Ziel ist, auf die App zu schauen und das beste Angebot von A nach B zu bekommen, komfortabler und schneller als heute.“
Die Umwidmung diverser Straßen zu Fahrradstraßen hat für Wirbel gesorgt. Viele Bürger waren entsetzt. Das Fahrradbüro hatte signalisiert, daraus gelernt zu haben und künftig die Bürger besser mitzunehmen. Wie denken Sie darüber?
Dafür habe ich vollstes Verständnis – für die Sorge, wenn sich im Straßenraum vor der Haustür etwas verändert oder wenn sich weniger Stellplätze auf den Komfort des Alltags auswirken. Das ist eine der Abwägungsentscheidungen, die jetzt mit den frühzeitigen Bürger- bzw. Anwohnerbeteiligungen viel differenzierter möglich ist und mit der auch im Dialog individuelle Sorgen berücksichtigt werden können. Die münstersche Haltung ist aber, noch mehr für das Fahrradfahren zu tun und das gelingt uns im knappen Raum in den Quartieren und in der Stadt nur mit umverteiltem Raum für die verschiedenen Verkehrsmittel. Für alle vorgeschlagenen Fahrradstraßen stehen nun die Beschlüsse. Das nächste große Projekt ist die Umgestaltung des Bohlwegs zur Fahrradstraße. Auch hier gab es eine konstruktive Bürgerbeteiligung.
KUNST AUF DEM WASSER*
Glücklicherweise nie im Wasser sind die Giant Pool Balls von Claes Oldenburg gelandet – angeblich wollten ja von den ersten Skulptur Projekten 1977 entsetzte Münsteraner die Kugeln ins Wasser rollen … Tatsächlich bis ins Wasser erstreckt sich das Kunstwerk Pier von Jorge Pardo. Der Steg stammt von den dritten Skulptur Projekten 1997. 40 Meter ragt er ins Wasser und ist Treffpunkt, Traumort, Fotolocation – für viele Münsteraner hat dieser Ort eine eigene Bedeutung. Sonntags zwischen 10 und 18 Uhr erklingt zur vollen Stunde über dem Wasserspiegel und unter der Torminbrücke Gesang: Die Künstlerin Susan Philipsz installierte zu den Skulptur Projekten 2007 Lautsprecher, aus denen die Arie Barcarole aus Jaques Offenbachs Oper Hoffmann’s Erzählungen klingt. Das Kunstwerk heißt Das verlorene Spiegelbild.
WASSERVöGEL AUF DEM SEE
Guck mal, wer da schwimmt: Weil der Aasee geteilt ist – in den stadtnahen Teil an den Aaseeterrassen und den neuen Aasee jenseits der Torminbrücke – unterscheiden sich auch die gefiederten Anwohner: Vorne schwimmen vertrauensvoll Stockenten und Blässhühner (schwarz mit weißem Stirnschild) herum – die wir nicht füttern sollten! Sie geh ren zu den häufigsten Wasservögeln am Aasee. Der neue Aasee ist der natürlichere Teil. Dort tummeln sich Teichhühner und Haubentaucher – letztere besonders zahlreich, weil der Aasee sehr fischreich ist. Auch Tafel- und Reiherenten paddeln hin und her. Zwergtaucher kann man ebenso beobachten wie den Kormoran oder den Graureiher, die sich beide den Fisch aus dem Wasser holen. Lachm wen kreischen, Grau-, Kanada- und Nilgänse schnattern. Die Vogelarten zählt der städtische Gew sser kologe Lutz Hirschmann von der Umweltbehörde auf. Der verrät seine Lieblingsplätze: „Zum einen der Zookanal mit den überhängenden Ästen und der Schilf- und der Vogelschutzzone. Wir sagen ‚Klein-Amazonas‘ dazu …“ Der beste Aussichtsplatz ist für Lutz Hirschmann die Hütte auf dem Zoohügel mit Blick über den ganzen See.
Inzwischen gibt es drei Anbieter der E-Roller (Lime, Tier, Bolt) – ein Mobilitätsangebot, das polarisiert. Machen diese Roller Münsters Mobilität abwechslungsreicher?
Wir haben in Münster im Gegensatz zu anderen Städten tatsächlich weniger Probleme mit den E-Rollern. Laut Polizei gibt es keine auffälligen Unfallzahlen. Wie und wo sie geparkt werden, ist sicherlich noch verbesserungswürdig – da wundere ich mich auch manches Mal. Insgesamt funktionierten die E-Roller in Münster viel besser als in anderen Städten. Ich erkläre das mit unserer guten Radinfrastruktur, die die Roller ja mit nutzen. Hinsichtlich der verkehrlichen Effekte haben wir keine konkreten Zahlen, wie viele Autofahrten gespart werden. Ich denke, die Effekte sind eher indirekt. Es ist anzunehmen, dass auch Fußwege ersetzt werden. Wenn dadurch aber insgesamt das zu Fuß-unterwegs- sein in der Stadt attraktiver wird und dann doch das Auto stehen bleibt, dann ist das auch wichtig. Zudem beobachten wir, dass die Roller für die sogenannte letzte Meile von ÖPNV-Nutzern eingesetzt werden, um etwa zur nächsten Bushaltestelle zu gelangen. Das ist dann ein Angebot innerhalb der Kette des Umweltverbunds und das stärkt die Mobilitätsvielfalt, ist also für Münster eine zusätzliche Option.
Macht das anvisierte Leihfahrradsystem in einer Stadt wie Münster Sinn, wo jeder mindestens ein eigenes Fahrrad hat?
Eine gute Frage, die in Münster durchaus berechtigt ist. Wir haben die Frage aber nicht aus dem Bauch heraus beantwortet, sondern gemeinsam mit einem Planungsbüro hierzu eine fachliche Antwort erarbeitet. Die Fachwelt ist sich mittlerweile einig: Das Leihrad hat eine sehr positive Zukunft und ist auch für Münster sinnvoll. Die Voraussetzung ist: Das Leihradsystem muss in den ÖPNV und in die Wegeketten im Alltag integriert werden. Dann macht es Sinn und wird eines Tages selbstverständlich. Wenn zwischen Loop, Zug, Car-Sharing-Auto und Leihrad umgestiegen wird. Wenn man mit dem ÖPNV in der Stadt ist, und man am Nachmittag, wenn das Wetter gut ist, mit dem Leihrad an der Kanalpromenade mit viel Spaß nach Hause radelt. So spart man Zeit und hat ein gutes Leben. Das Ziel ist eine Mobilitäts-Flatrate, bei der mit einer App alle Mobilitätsangebote barrierefrei genutzt werden können, je nach individuellem Bedarf. Wir untersuchen derzeit, wie viele Räder wohin müssen. Wichtig ist: Es müssen gute E-Bikes sein, die Spaß machen und das Angebot muss durch Lastenräder ergänzt werden.
Ein heißes Eisen: Die Flyover-Brücke. Warum ist es der Stadt wichtiger, ein Leuchtturmprojekt zu schaffen, als das viele Geld zur allgemeinen Verbesserung der Wege zu nutzen?
Es ist ja kein „entweder oder“, sondern ein „sowohl als auch“. Wir investieren zunehmend große Summen in den Radverkehr: 2014 bis 2018 waren es 15 Euro pro Einwohner und Jahr. 2019 waren es schon 20 Euro, 2020 werden es 30 Euro, 2025 wollen wir 40 Euro pro Einwohner und Jahr für die Fahrradinfrastruktur ausgeben. Damit sind wir bundesweit ganz vorne dabei. Insofern ist der Flyover keine Konkurrenz zum Fahrradinfrastrukturausbau. Auch konkurrieren hier nicht die Mittel: Für den Flyover sind Mittel des Bundes für innovative Projekte im Radverkehr gedacht. Hier könnte Münster einen neuen Weg beschreiten. Und zwar an einem Punkt, an dem täglich 30.000 Fahrradfahrer vorbeifahren. Die Idee hinter der Flyover-Brücke ist es, nicht nur das Notwendige, sondern das Bestmögliche für den Fahrradverkehr zu machen. Die bisherigen Bilder entsprachen der Teststudie. Im Rahmen eines Architekturwettbewerbs soll natürlich eine besonders ästhetische Fahrradbrücke entstehen, deren Benutzung einfach Freude machen soll. Das hat jetzt zu einer polarisierenden Debatte geführt, die viele überrascht hat. Damit müssen wir jetzt konstruktiv umgehen.
Ein beleuchteter Radweg am Kanal, Fahrradfahrer lösen das Laternenlicht durch ihre Bewegung an – bis Hiltrup scheint das sinnvoll. Aber wer fährt nachts mit dem Rad nach Senden? Nutzungszahlen gibt es keine, aber die Laternen stehen bereits am Kanal. Warum?
Wir haben inzwischen Zählschleifen eingebaut, um das zu erheben, aber ich möchte das erklären: Wenn wir einen beleuchteten Radweg bauen, dann für die gesamten 27 Kilometer am Kanalseitenweg, weil das für uns der Haltung entspricht, wie wir mit unseren Nachbargemeinden in der Region zusammenarbeiten. Wir wissen, dass wir unsere Verkehrsprobleme nur lösen, wenn wir regional denken. Wenn wir dann davon ausgehen würden, dass kein Mensch von Senden mit dem Rad nach Münster fahren würde, dann passt das nicht zu unserer Auffassung: Wir wollen ein Angebot schaffen, dem eine Nutzung folgen wird. Das haben wir gemacht. Unser Nachbarkreis hat sich jetzt aufgemacht, die Idee der Kanalpromenade weiterzuführen entlang des Kanal in Richtung Ruhrgebiet.
Der vierspurige Ausbau der B51 von Münster nach Telgte – auch hier gibt es Protest und doch scheint es so, dass der Straßenbau schneller realisiert wird als der Umweltverbund mit den Velorouten und der Bahnverbindung. Passt das zur Mobilitätswende?
Das Rennen hat von der Zeitachse klar das Fahrrad gemacht, weil wir mit der Veloroute Münster-Telgte schon sehr weit sind. Die Initiative für den Ausbau der B51 kommt vom Bund, um die regionalen Verbindungen zwischen Ostwestfalen und Münster zu verbessern. Der Straßenbaulastträger ist das Land NRW. Münster hat in diesem Zusammenhang immer deutlich gemacht, dass es wichtig ist, die Bahnübergänge zu optimieren und eine sichere und breite Fahrspur für E-Bikes und Lastenräder vorzusehen. Ein städtisch initiiertes Verkehrskonzept für die Zukunft soll eine nachhaltige Lösung entwickeln. Wenn es gelingt, mit den Radwegen und den guten Angeboten im ÖPNV und anderen Möglichkeiten den Verkehr zu reduzieren, brauchen wir vielleicht gar keine vier Spuren.“