MÜNSTER! Magazin

Ständige Geräuschkulisse: Durch den offenen Bau können die Bediensteten alles sehen und hören. Denn wenn sich die Stimmung verändert, ist dies als erstes an den Geräuschen erkennbar. Foto: Peter Leßmann

N°116


JVA MÜNSTER
Ein Blick hinter historische Mauern

Die JVA Münster ist als älteste Justizvollzugsanstalt in NRW mit ihrer  beeindruckenden Architektur ein ganz besonderer Ort. Von außen nicht  zu erahnen, eröffnet sich hinter den Steinmauern eine ganz eigene Welt,  die trotzdem den Strukturen und Abläufen der Gesellschaft folgt. 

Text Alina Köller


Der Weg durch die abgeriegelte Pforte ist der Zutritt in eine andere Welt: Mächtige Steinmauern, alte Korridore und verschlossene Türen sind in dieser Kombination nirgendwo sonst zu finden. Könnte man dabei das Gebäude der Justizvollzugsanstalt (JVA) Münster von oben betrachten, würde als erstes die Panopticon-Bauweise ins Auge fallen. Von einem zentralen Mittelpunkt aus gehen sternförmig vier Korridore ab, die somit schnell zu erreichen und für die Bediensteten gut zu überschauen sind. Bis 2016 bestimmte der sternförmige Bau die täglichen Abläufe, dann musste jedoch ein Großteil der einsturzgefährdeten Gebäude für die weitere Nutzung geschlossen werden. Aktuell ist der fünftstöckige Gebäudeflügel B mit 142 Untersuchungshäftlingen belegt. Für 80 verurteilte Straftäter wurde das ursprüngliche Lazarettgebäude umfunktioniert, alle anderen Inhaftierten wurden auf andere Standorte verteilt. „Das ist natürlich nicht optimal, bringt aber auch viele Vorteile mit sich“, erklärt Nina Gygax, stellvertretende Gefängnisleiterin. Durch die geringe Auslastung sei eine viel bessere Betreuung der Inhaftierten möglich, und auch die generelle Atmosphäre sei fast schon gemeinschaftlich. Die Männer, die das erste Mal im Gefängnis sind, können durch die plötzliche Umstellung ihres Lebens destabilisiert und überfordert sein. Daher steht das Ziel, einen möglichst normalen Alltag für die Häftlinge zu schaffen, im Mittelpunkt. 

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Foto: Peter Leßmann

Das Leben bleibt für die inhaftierten Männer in der JVA also nicht stehen, sondern fokussiert sich auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Vollzugspsychologin Sandra Wichmann und der soziale Fachdienst planen deshalb jeden einzelnen Vollzug individuell. „Wir schauen uns das Delikt und den Menschen dahinter ganz genau an und überlegen, was der Inhaftierte während des Vollzugs benötigt, um danach besser zurecht zu kommen und neue Straftaten zu vermeiden“, so Sandra Wichmann.

Ein fast normaler Arbeitsalltag 

Die Arbeit steht im Mittelpunkt des Alltags, auch hinter den Mauern. „Beschäftigung bedeutet Einkommen, Ablenkung und eine Tagesstruktur“, betont die stellvertretende Gefängnisleiterin Nina Gygax. Der Arbeitsalltag ist hier streng getaktet: Um 6.40 Uhr rücken die Betriebsarbeiter nach dem Frühstück unter Aufsicht der Bediensteten zur Arbeit aus. Dort arbeiten sie bis zur Mittagspause, kehren zurück in ihren Haftbereich, erhalten dort Mittagessen und rücken erneut bis 15.30 Uhr in die Werkbetriebe aus. In der JVA Münster gibt es so viele Arbeitsplätze, dass theoretisch alle Inhaftierten der Untersuchungshaft arbeiten könnten. Das liegt an dem großen Angebot der Betriebe, die sich in Schreinerei, Schlosserei, Stuhlbetrieb, Buchbinderei, Bücherei und Küche aufteilen. Inhaftierte mit besonderen Lockerungen dürfen den Bediensteten auch bei der Gartenarbeit oder bei der Essensausgabe helfen. In der Schreinerei werden beispielsweise alle Möbel für das Finanzamt und die Staatsanwaltschaft produziert. In Münster besonders bekannt ist auch der in der JVA produzierte Stehtisch. „Das ist ein Selbstläufer geworden. Egal, wo wir Bediensteten hingehen, in fast jedem Garten in Münster steht ein JVA-Stehtisch“, freut sich Nina Gygax über die Unterstützung der Münsteraner.

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Entgegen den Vorstellungen sind im Gefängnis auch mal offene Zellentüren zu finden. Dies passiert beim „Umschluss“, wenn die Inhaftierten sich gegenseitig besuchen dürfen. Foto: Peter Leßmann

Es gibt aber auch Inhaftierte, die psychisch oder physisch nicht in der Lage sind, in einem der großen Betriebe zu arbeiten. Diese Männer werden in der Förderwerkstatt mit einfachen Tätigkeiten in normale Arbeitsabläufe integriert und stellen Nistkästen, geflochtene Stühle oder Ofenanzünder aus Palettenholz her. „Hier geht es nicht wie in den großen Betrieben um die Produktion, sondern um die Gefangenen. Nicht alle schaffen acht Stunden Arbeit am Tag. Manchmal sind es dann auch nur zwei Tage pro Woche. Hier ist besonders die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst wichtig, um individuelle Arbeitsmodelle zu schaffen“, erklärt Vollzugs­psychologin Sandra Wichmann. Ist der Arbeitstag geschafft, findet um 16.00 Uhr die Freistunde statt. Hierfür dürfen sich die Inhaftierten eine Stunde im Freistundenhof aufhalten, dort können sie sich austauschen, joggen, Tischtennis oder Tischkicker spielen und Sportgeräte nutzen. Wer nach einer Überprüfung geeignet ist, darf an Sport- und Freizeitgruppen teilnehmen: Fußball und Kraftsport, Kunstworkshops, Gebets- und Gesprächsgruppen sowie Yoga und Entspannung. Immer wieder gibt es auch kleinere Konzerte, Theaterstücke oder Buchlesungen für Inhaftierte. Mehrmals die Woche gibt es den sogenannten „Umschluss“. Dabei darf ein Inhaftierter einen anderen Inhaftierten in seinem Haftraum besuchen, um dort Karten zu spielen oder Kaffee zu trinken. Gegen 20.30 Uhr endet die Freizeit und jeder muss zurück in seinen eigenen Haftraum. Dort wird dann die Anwesenheit kontrolliert und der Haftraum verschlossen. 

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Auf nur acht Quadratmetern können sich die Inhaftierten mit persönlichen Gegenständen wie Fotos, Postern und Büchern einrichten. Und Not macht erfinderisch: Wäscheleinen aus Stoffresten, Regale aus alten Teekartons und mit Papier abgedeckte Deckenleuchten sind hier zu finden. Foto: Peter Leßmann

Wenn Freiheit wichtiger wird 

Um den Vollzug aus Sicht eines Inhaftierten besser verstehen zu können, durften wir mit einem 36-jährigen Häftling sprechen, der uns seinen Haftraum in der einzigen und deshalb begehrten Wohngruppe der JVA zeigt. Der seit einem Jahr in Haft befindliche Mann, nennen wir ihn „Peter“, freut sich, von seiner Arbeit erzählen zu können. „Ich arbeite als Vorarbeiter in der Küche und teile die Leute dort ein. Ich komme ursprünglich aus der Gastronomie und habe einige Läden in Münster, weshalb ich auf diesem Gebiet viel Erfahrung mitbringe. Die Arbeit ist für die Menschen hier das Wichtigste“, erzählt er. Sein Tag beginnt bereits um fünf Uhr morgens und ist streng getaktet. „Diese Kontinuität ist wichtig für die Inhaftierten und schafft Ablenkung, aber auch Wertschätzung. Jeder Mensch möchte gebraucht werden“, ergänzt Nina Gygax. Peter erinnert sich noch genau an den Tag der Ankunft in der JVA: „Die größte Umstellung ist natürlich das Eingeschlossensein. Man macht sich viele Gedanken und muss sich erst einmal daran gewöhnen. Jeder geht damit anders um, ich wollte einfach ganz schnell wieder anfangen zu arbeiten.“ Peter lernt hier unter den Mithäft­lingen Menschen kennen, mit denen er außerhalb der Mauern vielleicht nie gesprochen hätte, und es gelingt ihm schnell, sich anzupassen. Eine Sache betont er immer wieder: Die Bediensteten in der JVA Münster sind einfach anders. „Klingt komisch, aber die Bediensteten sind hier einfach nett. Sie stempeln einen nicht als Häftling oder Straftäter ab, sondern für sie sind wir immer noch Menschen“, erzählt er lächelnd. Der Bedienstete, der unser Gespräch bewacht, nickt zustimmend. „Wir vermitteln den Inhaftierten, dass sie sich jederzeit bei uns melden können. Wenn die Türen der Zellen zu sind, sehen wir ja nicht, wie es ihnen geht.“ Peter vermisst das Leben zuhause, die Familie und besonders seinen Hund. Er ist sich aber bewusst, dass der geschlossene Vollzug für ihn und seine Zukunft sehr wichtig ist. „Jetzt kann ich im Nachhinein sagen, meine Freiheit ist mir so viel wichtiger als alles andere, und mein Vergehen hat sich wirklich nicht gelohnt. Ich habe das alles nun verstanden und arbeite auf meine Frei­lassung hin.“  

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In der großen Schreinerei arbeiten 23 Gefangene. Die betreuenden Bediensteten müssen als Einstellungsvoraussetzung einen Meistertitel mitbringen, um die meist ungelernten Hilfskräfte anlernen zu können. Foto: Peter Leßmann

Untersuchungshaft vs. Strafhaft

Zum Zeitpunkt der Untersuchungshaft gilt die Unschuldsvermutung, die Inhaftierten haben keine Arbeitspflicht und müssen an Behandlungsmaßnahmen wie Therapien nicht teilnehmen. Die 
U-Haft dient dazu, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren sicher vollenden und die Schuld oder Unschuld festgestellt werden kann. Untersuchungshäftlinge haben beispielsweise mehr Freiheiten und dürfen auch ihre eigene Kleidung tragen. Strafhäftlinge wurden bereits verurteilt und sind während des Vollzugs zur Arbeit und Behandlungsmaßnahmen verpflichtet. In der JVA Münster befinden sich überwiegend Strafgefangene mit kurzer Freiheitsstrafe. Das Ziel: künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen und die Gesellschaft währenddessen davor zu schützen. Im Hinblick auf die Entlassung können Strafgefangene nach und nach kontrollierte Vollzugslockerungen erhalten.  

Kleine Lichtblicke und Bücherwelten

Die Zeit im Gefängnis ist emotional belastend, müssen die Inhaftierten doch mit sehr vielen Einschränkungen leben. Zwei Stunden im Monat dürfen sie Besuch empfangen. Gefangene mit minderjährigen Kindern erhalten zwei weitere Stunden Besuchszeit. Das Besondere dabei ist das seit 2019 liebevoll eingerichtete Familienzimmer, in dem die Inhaftierten in privater Atmosphäre Zeit mit ihren Kindern verbringen können. In dem kunterbunten Zimmer mit Tiertapeten wirkt es so, als würde man sich in einer richtigen Kita befinden. „Das macht die Situation für alle etwas leichter. Einige Inhaftierte wollen ihren Kindern den Ort eines Gefängnisses aber trotzdem nicht zumuten, oder die Kinder wissen nicht, dass die Väter hier sind“, erzählt Psychologin Sandra Wichmann. Eine weitere Besonderheit ist die mit dem Deutschen Bibliothekspreis ausgezeichnete Gefangenenbücherei, die zur Weiterbildung und sinnvollen Freizeitbeschäftigung dient. Mit fast 80 Prozent Benutzerquote ist die Bücherei bei den Insassen sehr beliebt und bietet auch einen Lese- und Entspannungsraum. Durch Sprache und Literatur können sich die Inhaftierten ihren Interessen widmen und in andere Lebenswelten abtauchen. An den Wänden der Bücherei wurden unzählige Spiegel angebracht, ein kaleidoskopischer Effekt, der die Unendlichkeit der Bücherwelt widerspiegeln soll. „Viele Inhaftierte fangen im Vollzug an zu lesen und nehmen das mit in ihr neues Leben“, erzählt Nina Gygax. Es fängt mit Comics und bebilderten Geschichten an und führt in den meisten Fällen dann doch zum Sachbuch oder Roman. Für uns mögen es nur ein Spielzimmer oder eine kleine Bücherei sein, die JVA erfüllt damit aber eine wichtige Vollzugsaufgabe: Beide Räume sind eine vorbereitende Hilfe, sich besser in das Leben in Freiheit eingliedern zu können. 

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Das helle und moderne Familienzimmer hebt sich von der eigentlich kargen Einrichtung des Gefängnisses ab, um die familiären Kontakte besonders zu fördern und den Kindern ein gutes Gefühl zu geben. Fotos: Peter Leßmann

teil der Gesellschaft

Arbeit, Freizeit und Freunde: ein ganz „normaler“ Tag. Doch wie geht es nach der Freilassung 
weiter? „Wir können in betreutes Wohnen vermitteln, den Kontakt zu externen Hilfsangeboten herstellen und während des Vollzugs schauen, was die Inhaftierten für das Leben danach benötigen“, so Wichmann. Am Ende des Tages ist es für manche Bedienstete schwierig, die Gefängnis-Stadt in Gedanken nicht mit nach Hause zu nehmen. „Draußen haben die Menschen eine ganz andere Vorstellung von dem, was hier drin passiert. Für die meisten ist es nicht nachvollziehbar, was uns beschäftigt“, erklärt Nina Gygax. Umso wichtiger ist der gemeinsame Austausch unter Kollegen. Aktuelle Gesprächsthemen sind der Neubau der JVA und die zukünftigen Veränderungen. Die jetzigen baulichen Gegebenheiten sind optisch zwar etwas Besonderes, können aber keinen zeitgemäßen Standard mehr bieten. „Deshalb freuen wir uns für die Inhaftierten auf den modernen Neubau. Wir hoffen, dass wir durch die Lage am Rand der Stadt von der Gesellschaft nicht vergessen werden. Es gibt nun mal ein Gefängnis. Das darf aus dem Bewusstsein der Menschen nicht verschwinden“, so Nina Gygax über die Zukunft der JVA Münster.