N°138
OTTO MUELLER
Ein Blickwechsel
150 Jahre Otto Mueller, Zeit für einen Rückblick auf den großen expressionistischen Künstler im LWL-Museum für Kunst und Kultur – und das mit Blick auf aktuelle Diskurse über die Darstellung von weiblicher Nacktheit und stereotype (Bild-)Vorstellungen von Sinti und Roma. Start ist Freitag, der 20. September.
Text Nina lenze
Eine umfassende Werkschau
Am 15. Oktober wäre Otto Mueller (1874–1930) 150 Jahre alt geworden. Der in Schlesien geborene Künstler ist bekannt für seine harmonischen Darstellungen von grazilen jungen Frauen in der freien Natur, deren überschlanke Körper mit der Landschaft zu verschmelzen scheinen. Er war Mitglied der Künstlergruppe Brücke, einer Kunstbewegung des Expressionismus (Anmerkung der Redaktion: Künstlergemeinschaft 1905–1913, die mit freien, flächigen Kompositionen, intensiven, leuchtenden Farben und schnellen Pinselstrichen das subjektive Empfinden zum Ausdruck brachte und damit als Wegbereiter der klassischen Moderne gilt). Otto Mueller und der deutsche Expressionismus sind heute international extrem gefragt. Da aufgrund des fragilen Zustands viele Werke nicht mehr reisen können, gestaltet sich das Ausstellen immer schwieriger.

„Dass es uns in Münster dennoch gelungen ist, ab Freitag, 20. September, über 60 Gemälde und eine große Anzahl an Lithografien zu präsentierten, ist umso erfreulicher“, hebt die leitende Kuratorin Dr. Tanja Pirsig-Marshall hervor. Sogar drei Werke aus den USA sind dabei, darunter Landschaft mit gelben Akten (1919) und Drei Frauen im Wald (1920), die im Zuge Otto Muellers nationalsozialistischer Diffamierung als entarteter Künstler dorthin gerettet wurden und nun seit 70 Jahren erstmals wieder in Deutschland zu sehen sind. Pirsig-Marshall ist eine ausgewiesene Otto Mueller Expertin, erst 2020 ist ein von ihr mitverfasstes, umfangreiches Werksverzeichnis erschienen. In Zusammenarbeit mit den Kuratorinnen Flora Tesch und Ann-Catherine Weise ist eine spannende Ausstellung entstanden, die mit kritischem Blick und auf der Basis aktueller Forschungen neue Perspektiven auf den Künstler eröffnet.

Neue Perspektiven auf die Aktmalerei
Otto Muellers zentrale Themen sind das Motiv der Badenden, Liebespaare in zahlreichen Variationen, teils auch mit ihm selbst im Bild, und Porträts seiner Partnerinnen. Viele seiner Bilder sind explizit sexualisierend, der weibliche Körper ist exponiert, Liebespaare werden in eindeutigen Posen gezeigt. Andere wiederum wirken unaufgeregt, die stilisierten Frauenkörper nur schemenhaft angedeutet und im Einklang mit der sie umgebenden üppigen Vegetation. Weibliche Aktdarstellungen sind heute ein kontrovers diskutiertes Thema. „Aktmalerei gehört ganz klar zum deutschen Expressionismus und steht im Zentrum von Otto Muellers künstlerischem Schaffen“, so Pirsig-Marshall. Aus historischer Sicht können die freizügigen Darstellungen zwar als Befreiung aus den strengen Konventionen vergangener Jahrhunderte angesehen werden, da nackte Körper bislang nur mythologisch eingebettet gezeigt werden durften. Dennoch haben Otto Muellers Aktmodelle einen erotischen Charakter und bedienen damit den männlich sexualisierenden Blick. Im LWL-Museum für Kunst und Kultur hat man sich daher die Frage gestellt, wie man heute auf diese Art von Aktmalerei blicken kann. „Im Grunde haben wir uns dazu entschieden, die Bewertung dem Betrachter selbst zu überlassen“, führt Pirsig-Marshall aus. „Aber wir wollen einen Perspektivwechsel vornehmen.“

Rechts: Das Gemälde Paar in der Kaschemme (1913) zeigt ein Liebespaar, bei dem nur der weibliche Körper nackt und exponiert dargestellt ist. Copyright: Otto Mueller, Paar in der Kaschemme, 1913, Lehmbruck Museum, Duisburg. Foto: Bernd Kirtz
Wie andere Brücke-Künstler porträtierte Otto Mueller mehrfach seine Partnerinnen, darunter Maria ‚Maschka‘ Mueller (Ehefrau 1905–1921), Irene Altmann (Geliebte), Elisabeth ‚Elsbeth‘ Lübke (Ehefrau 1922-1927) und Elfriede ‚Fibs‘ Timm (Ehefrau ab 1930 bis zu seinem Tod). „Diese porträtierten Frauen wollen wir aus ihrem bildlichen Kontext herauslösen und in einem eigenen Raum vorstellen“. Dadurch sind sie nicht länger ein sexualisiertes Objekt, sondern werden wieder zum Subjekt ihres eigenen Lebens und bekommen nachträglich eine individuelle, von der Begierde losgelöste Persönlichkeit zurückverliehen.

Otto Muellers Darstellung der Sinti und Roma:
eine romantisierende Verklärung?
Eine weitere Herausforderung ist Otto Muellers Hinwendung zur Minderheitengruppe der Sinti und Roma ab den 1920er Jahren. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Sehnsucht nach fernen Paradiesen weit verbreitet, was unter anderem auf Theodore Rousseaus Zivilisationskritik zurückgeht. Auf der Suche nach einer vorzivilisatorischen Ursprünglichkeit wandten sich Künstler daher verstärkt der Natur zu, aber auch dem vermeintlich ursprünglicheren Leben in der Ferne. Otto Mueller interessierte sich zunehmend für die Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma und unternahm mehrere Reisen in die Balkanländer. In dieser Zeit entstand ein Zyklus von sinnlich-erotischen Sinti und Roma Porträts. Obwohl seine romantisierenden Porträts als Gegenentwurf zu den Zwängen eines bürgerlichen Lebens gelesen werden können, spiegeln sie eher eigene Sehnsüchte eines vermuteten freien Lebens wider, als dass sie die Lebensrealität der Sinti und Roma abbilden. Auch gilt der von Otto Mueller verwendete Begriff ,Zigeuner‘ heute als rassistisch und diskriminierend. „Im Ringen um den richtigen Umgang damit haben wir eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich neben uns als Kuratorinnen aus externen Vertretern der Sinti und Roma Community zusammensetzt. Neben André Raatzsch, dem Leiter des Referats Dokumentation am Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, gehören Tayo Awosusi-Onutor und Miriam Siré Camara vom feministischen Rom:nja Archiv RomaniPhen und Natascha A. Kelly dazu, die sich als Wissenschaftlerin, Autorin, Kuratorin und Künstlerin mit Schwarzer Geschichte und Kolonialismus beschäftigt“, führt Flora Tesch aus.

Im Dialog mit anderen Künstlern
Was die Titel anbelangt, hat man sich schließlich darauf geeinigt, den Begriff ‚Zigeuner‘ durchzustreichen. In diesem Artikel lösen wir es über drei Sternchen: Z***. Da eine nachträgliche Identifizierung der dargestellten Sinti und Roma Frauen nicht mehr möglich ist, gibt es verschiedene Ansätze, den Porträtierten ihre Identität zurückzugeben. Dass Otto Muellers Alltagsporträts an stereotype Bildtraditionen, Sinti und Roma als exotische Objekte der Begierde darzustellen, anknüpfen, wird durch die Gegenüberstellung zeitgenössischer Werke von Sinti und Roma Künstlerinnen deutlich. Diese zeigen nämlich eine ganz andere Lebenswirklichkeit. So erreicht Malgorzata Mirga-Tas (*1978) mit ihrer textilen Arbeit Morning Tea (2023), die zwei gut situierte, adrett gekleidete Frauen beim Tee zeigt, nicht nur eine Korrektur der erotisierenden Vorstellung von weiblichen Sinti und Roma; ihr Werk ist auch ein direkter Verweis auf Otto Muellers Zwei Z*** mit Katze (1926) und damit ein Versuch, den beiden Dargestellten nachträglich Würde und Persönlichkeit zu verleihen.

Ein weiterer Ansatz der Einordnung seiner Porträts ist Natasha A. Kellys künstlerische Intervention. Als Künstlerin setzt diese sich insbesondere mit der Rolle der Schwarzen Frau auseinander, und zwar aus der Perspektive einer Schwarzen Feministin. Schon in ihrer Videoarbeit Millis Erwachen (2018), die sich explizit auf Ernst Ludwig Kirchners Gemälde Schlafende Milli (1911) bezieht, widmete sie sich der Frage nach der Identität der Schwarzen Modelle der Brücke-Künstler. Dabei ließ sie Schwarze Frauen über ihre gegenwärtigen Erfahrungen im deutschen Kunstkontext sprechen, wodurch koloniale Kontinuitäten (Anmerkung der Redaktion: Fortbestehen kolonialer Strukturen der Abhängigkeit und Ausbeutung und rassistischer Denkmuster der Ausgrenzung) sichtbar wurden und Milli nachträglich eine Stimme verliehen bekam. In ähnlicher Weise soll die künstlerische Intervention im LWL-Museum für Kunst und Kultur konzipiert sein, da sich koloniale Kontinuitäten genauso bei Otto Mueller finden. „Es wird wieder um die Beziehung zwischen Künstler und Modell gehen, Figuren werden aus ihren bildlichen Kontexten gelöst, und es soll drei Filme sowie eine Wissensapotheke (Sammlung von Wissen und Informationen zu verschiedenen Themen und Fachbegriffen, Beratung durch Schwarze ExpertInnen, Bibliothek und interaktive Stationen) geben“, verrät Flora Tesch. Da sich Otto Mueller selbst auch einige Male als Schwarzer dargestellt hat, etwa in N**** und Tänzerin (1903), wird ein weiteres Thema die Schwarze Männlichkeit sein.

Weniger ist mehr
Die Ausstellung ist in große Themenblöcke unterteilt: Mensch und Natur, Frauenbilder, Die Badenden im Kontext der Künstlergruppe Brücke, Muellers Darstellungen der Sinti & Roma im Dialog mit Gegenwartskünstlern der Sinti & Roma Community, Natasha A. Kelly sowie seine Selbstbildnisse im Dialog mit anderen Selbstporträts. „Wir haben uns dazu entschieden, in einigen Räumen weniger von Otto Mueller zu zeigen, dafür aber mehr zu kontextualisieren und parallel andere Künstler aus der Zeit sowie zeitgenössische Positionen zu präsentieren“, erklärt Flora Tesch. Eine große Bandbreite also an Werken von Otto Mueller aus verschiedenen Schaffensphasen, und das mit Blick auf aktuelle Diskurse: Wir dürfen gespannt sein! Auch auf das Rahmenprogramm, das Themen rund um Otto Mueller und den Expressionismus sowie Veranstaltungen zu den Verflechtungen von Expressionismus und Kolonialismus und zur Kulturgeschichte der Sint:izze und Rom:nja beinhaltet.
OTTO MUELLER
20.9.2024–2.2.2025
LWL-Museum für Kunst und Kultur
Domplatz 10, Münster
Vortrag
Nachtblumen aus Indiens Gärten Der Maler Otto Mueller sucht das „Z***gefühl“
Mit Prof. Dr. Klaus-Michael Bogdal
Mittwoch, 16. Oktober 2024, 19.30 Uhr Eintritt: 10 Euro / ermäßigt 5 Euro
Podiumsgespräch
Museen als Orte interdisziplinärer Aufklärung
Mit Prof. Dr. Natasha A. Kelly (Berlin) und Dr. Hermann Arnhold
Mittwoch, 20. November, 19.30 Uhr Eintritt: 10 Euro / ermäßigt 5 Euro
lwl-museum-kunst-kultur.de