MÜNSTER! Magazin

Foto: Peter Leßmann

N°115


Eine wie viele

Seit Monaten ist alles anders. Am 24. Februar begann Russlands Präsident Wladimir Putin einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bomben fallen, Schreckliches passiert. Menschen flüchten. Lassen ihr Zuhause zurück, Familie, Freunde. Auch in Münster und im Münsterland suchen Menschen Schutz. MünsteranerInnen und MünsterländerInnen engagieren sich. Es passieren unzählige Geschichten, jede ist anders. Es passt das Zitat des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Wir erzählen stellvertretend für alle anderen das Beispiel der Familie Oliinyk und ihrer Unterstützer, der Familie Reger aus Freckenhorst.

Text Cornelia Höchstetter


Amalia ist eine junge Münsteranerin. Anfang April ist das kleine Mädchen im Franziskus Hospital auf die Welt gekommen. Ihre Mama Liza Oliinyk, 21 Jahre alt, hält die winzige Babyhand. Papa Andrii Oliinyk, 25 Jahre, hat die zwei im Auge, während er erzählt. Amalia kuschelt sich in Mamas Arm und schläft tief und sicher weiter. Das kleine Mädchen ahnt nicht, dass sein Start ins Leben eigentlich ganz anders vorgesehen war.

Familie Oliinyk gehört zu den weit über fünf Millionen ukrainischen Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, die ihr Heimatland verlassen haben. Oliinyks sind im Münsterland gelandet. Ihr Freund Boris aus Freckenhorst hat sich gekümmert und unterstützt, dass die hochschwangere 20-jährige Liza in Sicherheit kommt und ihr Baby im Frieden zur Welt bringen konnte. Wir vom MÜNSTER! Magazin möchten stellvertretend für alle anderen von diesem ukrainischen Paar erzählen. Und von Familie Franziska und Alexander Reger mit den Söhnen Joris, 1 Jahr alt, Jacob, 3, und Julian, 11. Regers gaben ihre Einliegerwohnung frei. Bei unserem Besuch übersetzt Alexander Reger – Andrii Oliinyk und Alexander Reger sprechen beide russisch. Alexander Regers Eltern sind Russlanddeutsche, die mit ihm als kleinem Jungen einst nach Freckenhorst kamen.

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Liza und Andrii Oliinyk haben ihr Baby nach der Tochter einer Freundin benannt, die in Spanien lebt: Amalia. Fotos: Peter Leßmann

NACKTE STATISTIK

Zum Redaktionsschluss (oder besser: zum 31. Mai 2022) sind es insgesamt 2.752 Personen aus der Ukraine, „die von der Ausländerbehörde zum aufenthaltsrechtlichen Status zu bearbeiten sind. Davon beziehen 2.363 Personen Leistungen beim Sozialamt. Ergänzend haben sich 389 Personen gemeldet, die keine Transferleistungen beziehen, aber zum Arbeiten oder Studieren eine Aufenthaltserlaubnis benötigen“. Das sind die nackten Zahlen, die uns Helga Sonntag vom Ausländeramt der Stadt Münster berichtet. Eigene Statistiken führen die Münsterland-Kreise Warendorf (wo Familie Oliinyk wohnt), Coesfeld, Borken und Steinfurt. „Viele Menschen sind auch mit dem Touristenstatus hier, die Zahl können wir nicht abschätzen“, sagt Helga Sonntag. Melden muss sich für einen Aufenthaltsstatus nur, wer arbeiten möchte oder Transferleistungen benötigt. Wie groß die Zahl auch wirklich ist: Hinter jeder Ziffer steckt eine Geschichte.

DIE MENSCHEN HINTER DEN ZAHLEN

Die ersten drei Tage des Kriegsbeginns im Februar 2022 haben Oliinyks gar nicht so bewusst wahrgenommen. Irgendwie falsch eingeschätzt. Wie wir fast alle, vor dem 24. Februar, oder? „Der Alltag lief erst einmal weiter“, erzählt der junge ukrainische Familienvater. Seine Ehefrau Liza Oliinyk ist Arzthelferin in einer gynäkologischen Praxis, war im Februar hochschwanger und blieb bereits zuhause. Andrii Oliinyk hatte vor kurzem den Master-Abschluss im Ingenieurwesen abgelegt, mit Schwerpunkt Solarenergie. Eigentlich die richtige Zeit zum Durchstarten für einen werdenden Familienvater. Er war auf Jobsuche und arbeitete vorübergehend als Fliesenleger, wie er es auch während des Studiums schon tat. Auf der Baustelle redeten immer mehr Kollegen über Krieg. Nach drei, vier Tagen fühlte das Paar die Gefahr. Weil die Grenze nach Moldawien und Rumänien nicht weit weg war von ihrer Heimatstadt Czernowitz – ähnlich wie Münster mit um die 300.000 Einwoh- nern –, und weil sie Kontakt zu ihrem Freund Boris nach Freckenhorst hatten, haben sie vorsorglich einen Koffer gepackt. „Mit Sachen für vier Wochen“, sagt Andrii Oliinyk. Er ist einer der wenigen Männer, die das Land verlassen haben. Darüber spricht er nicht. In Münster kommen laut Sozialamt der Stadt 70 Prozent Frauen und 30 Prozent Männer an. Dass Andrii Oliinyk seine hochschwangere Frau nicht alleine lassen wollte, liegt auf der Hand. 48 Stunden waren sie unterwegs, bis sie bei Boris in Freckenhorst angekommen sind.

BÜROKRATIE UND BÜRGERINITIATIVEN

Die Ukraine ist nur etwa 1500 Kilometer entfernt. Das ist wohl menschlich, wenn auch unlogisch und ungerecht, dass dieser Krieg mit seinen geflüchteten Menschen uns noch mehr an die Nieren geht, als die ebenfalls bedrückenden Flüchtlingswellen aus Syrien, Afghanistan und anderen Krisenländern. Unsere Städte dagegen nutzen ihre Erfahrung mit Geflüchteten. Der Abteilungsleiter des Sozialamtes der Stadt Münster, Heinz Lembeck, erklärt das übliche Procedere: „Die Erstaufnahme der ukrainischen Geflüchteten passiert in der Oxford-Kaserne, zumindest von denen, die hier weder Familie noch Freunde haben, bei denen sie wohnen können. Die meisten melden sich beim Sozialamt oder bei der Ausländerbehörde, damit sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beantragen können.“ Ab dem ersten Juni ändert sich das, dann können ukrainische Geflüchtete normale Sozialleistungen sowie Kindergeld und BAföG erhalten, und damit „normale“ Kunden im Jobcenter werden. „Wir haben irrsinnig viel Arbeit durch die vielen Anträge und den anstehenden sogenannten Rechtskreiswechsel“, sagt Heinz Lembeck.

Geflüchtete in Münster

Wir haben Helga Sonntag von der Münsteraner Ausländerbehörde gefragt, ob der Ukraine-Krieg das Problem der anderen Geflüchteten verdecke. Sie antwortete: „Das deutsche Aufenthaltsrecht orientiert sich an Aufenthaltszwecken wie Erwerbstätigkeit, Studium, humanitären Aufenthalten, Familienzusammenführung und ist je nach Aufenthaltszweck an unterschiedliche Voraussetzungen gebunden. In Münster leben rund 22.800 Menschen aus Drittstaaten, davon haben etwa 6.200 Menschen eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären, völkerrechtlichen oder politischen Gründen. Im Regelfall haben diese Menschen ein Asylverfahren durchlaufen, das sie als Flüchtlinge oder als subsidiär Schutzberechtigte anerkennt oder sie sind über ein spezielles Aufnahmeprogramm der Bundesregierung gekommen wie etwa Menschen jüdischer Abstammung aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion oder als afghanische Ortskräfte. Die Voraussetzungen sind jeweils unterschiedlich. Auch die Aufnahme der UkrainerInnen richtet sich nach einer besonderen Rechtsgrundlage mit eigenen Anforderungen. Das von der Ausländerbehörde anzuwendende Recht ergibt sich aktuell aus rund 20 Gesetzen, Verordnungen, bi- und multinationalen Abkommen und den dazu gehörenden Erlassen und Anwendungshinweisen. Die Ausländerbehörde Münster steht ausdrücklich für eine Ermöglichungskultur, also, Aufenthalte zu ermöglichen bzw. Aufenthaltsstati zu verbessern. Das geht aber nur im Rahmen der für den jeweiligen Personenkreis geltenden Rechtsgrundlagen.“

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stadt-muenster.de/Ukraine

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Zwei Familien rücken zusammen: Die Freckenhorster (v.l.) Jacob, Alexander, Joris und Franziska Reger (Julian fehlt auf dem Foto). Und die ukrainische Familie Liza, Amalia und Andrii Oliinyk. Foto: Peter Leßmann

ROSA SCHLEIFE UND GRÜNES FAHRRAD

Liza Oliinyk schaukelt Amalie sanft hin und her. Die rosa Schleife um das Köpfchen sieht nach heiler Welt aus. Mama da, Papa da. Alles gut. 
Als Andrii und Liza Oliinyk bei Boris angekommen sind, hatte er kaum Platz in seinem Haus, aber er hat alles organisiert, Behördengänge und den Aufenthalt im Krankenhaus für Amalias Geburt. „In einem fremden Krankenhaus ein Kind zur Welt zu bringen, das muss ja furchtbar sein“, findet Franziska Reger, selbst Mutter kleiner Kinder. Sie öffnete die Tür, als ihr Nachbar Boris klingelte. Bei Familie Reger wurde die Einliegerwohnung kürzlich frei und eigentlich wollten sie den Platz für sich nutzen. Die Handwerker waren bestellt und alle sehnten sich nach dem zusätzlichen Platz. „Aber als Boris fragte, ob die junge Familie bei uns einziehen könne, konnte ich ja nicht Nein sagen!“, erzählt Franziska Reger. Sie hat nicht einmal mit ihrem Mann Alexander gesprochen und Familie Oliinyk durfte einziehen. „Andrii und Liza haben selber renoviert, an Möbeln hat jeder etwas gegeben. Unser Julian hat sein Bett abgegeben und schläft vorübergehend auf einer Matratze, bis das neue Bett da ist.“ Franziska Reger gibt Liza Oliinyk Babysachen, ihr Mann Alexander Reger hilft auf seine Weise: „Mein Ansatz ist, die Menschen zu beschäftigen“ – und so haben die beiden Männer zusammen im Garten das Gartenhäuschen aufgebaut.

Das Zeichen, dass die Familie sich schon etwas eingelebt haben, lehnt an der Hauswand: ein grünes Fahrrad. „Fahrradfahren ist super, in der Ukraine hatten wir nicht mal Radwege!“, Andrii Oliinyk fährt jeden Tag mit dem Rad auf Arbeit. Die hat er dank der Vermittlung von Alexander Reger gefunden: als Fliesenleger! Dass er eines Tages als Ingenieur arbeiten wird, davon ist er überzeugt. Momentan ist er zufrieden mit der Situation.

„Fahrradfahren ist super,
in der Ukraine haben wir nicht mal Radwege!“

Andrii Oliinyk

ZOOBESUCH UND MEDIKAMENTENSPENDEN

Ähnliches bestätigt Heinz Lembeck vom Münsteraner Sozialamt. „Die Spendenbereitschaft ist bemerkenswert positiv, es gibt sehr viele private Organisationen – etwa Hilfstransporte nach Polen.“ Der Abteilungsleiter erzählt, dass sich Bürger melden und Einladungen in den Zoo oder Zirkus aussprechen. Es gäbe Tornisterspenden für die Schulkinder, Backkurse oder Übersetzungsangebote. Auch bei der Freiwilligenagentur melden sich viele, die irgendwie helfen wollen. „Es gibt nichts, was es nicht gibt“, sagt Heinz Lembeck. Auch was Wohnraumangebote angeht: von normalen Mietwohnungen über Einliegerwohnungen bis zum Familienanschluss.

DAS LIED FÜR DIE UKRAINE

„Uns haben die ganz pragmatischen Sachen geholfen: Dass ich das Fahrrad behalten darf, ist großartig. Unsere Erwartungshaltung ist nicht groß und wir haben bisher nur gute Erfahrungen gemacht“, sagt Andrii Oliinyk. Seine Freunde sind in Belgien, der Schweiz und in Polen gelandet, sie stehen alle im Kontakt und Oliinyks finden, „dass es in Deutschland am besten klappen würde.“ Was vor allem an so großartigen Menschen wie Boris und Familie Reger liegt. Und die Zukunft? Die sieht die kleine Familie in der Ukraine. Sie wollen Frieden und dann ihr Land wieder aufbauen. Politisch wünscht sich Andrii Oliinyk anders als andere: „Am meisten wäre geholfen, wenn es keine Waffenlieferungen gäbe. Vielleicht wäre dann der Krieg schneller vorbei. Vielleicht würden die Russen aufhören, stehen bleiben ...?“
Neue Kontakte finden die zwei über Boris, über ihre Vermieterfamilie Reger und über ihre Religion. Sie sind gläubige Baptisten, in der Gemeinde in Beelen sind sie gut aufgenommen worden. Andrii Oliinyk hat seine Bibel aus der Ukraine mitgenommen und liest täglich daraus. Und dann spielt er Gitarre. Die hat er sich nachbringen lassen – Lizas Violine hat das nicht geschafft. So sitzt sie neben ihrem Mann auf dem Sofa und hört zu, wie seine Finger die Saiten zupfen und seine Stimme nach Lagerfeuer und Freiheit klingt. „Das Lied der Lieder“, sagt Andrii Oliinyk und singt in der für uns fremden Sprache. Es sei ein motivierender Song, dass die Ukraine bestehen bliebe. Ein Vergleich mit einer Pflanze, die immer wächst, auch wenn man sie trete. Sie würde immer weiter wachsen ...

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Jeder Mensch sucht in schwierigen Zeiten nach Halt und Identifikation. Für Familie OIiinyk sind das die Musik und ihr Glauben. Foto: Peter Leßmann