N°129
Leidenschaftlich küchenverrückt
„Eigentlich wollte ich auf Lehramt studieren!“, erzählt Aljoscha Tiné, seine Freunde nennen ihn Joschi – und wir dürfen das auch. „Doch dann habe ich meine Leidenschaft zum Beruf gemacht.“ Der 25-Jährige absolviert eine Kochausbildung in der gehobenen Gastronomie. Und in seiner Freizeit? Kocht er weiter.
Text britta heithoff
Mitten auf dem Wochenmarkt habe ich vor über einem Jahr eher zufällig Joschi kennengelernt. So ist das in Münster. Der „Kumpel vom Sohn einer Freundin“ liebt es, mittwochs und samstags durch die Gänge auf dem Domplatz zu streifen, mit Standbetreibern über das perfekte Stück Fleisch für Ochsenbäckchen zu fachsimpeln und das frischeste Saison-Gemüse der Region für ein neues, privates Küchenexperiment gemeinsam mit seinen Freunden Mika, Jakob, Tim, Lukas und Max, die ebenfalls Kochazubis sind, auszuwählen. (Ihr gemeinsamer Instagram-Account @lil.chefss sei an dieser Stelle empfohlen!)

Zum Kochen wurde der heute 25-Jährige wohl nicht unwesentlich durch seinen Vater inspiriert. Der Professor für Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich kocht selbst gern – nicht selten international inspiriert. Als Joschi etwa 15 Jahre alt war, fing er (natürlich nur im übertragenen Sinne) Feuer beim Kochen mit Papa, der sich damals gerade auch mit indischer Kultur und so auch den dortigen Küchentraditionen beschäftigte. „Wir standen dann nach gemeinsamen Kochabenden gemeinsam an der Küchentheke oder saßen vor unseren Tellern und ich dachte: „Wow, das haben wir gerade mit unseren eigenen Händen selbst gemacht!“. Eine Initialzündung für den noch jungen Joschi.
Auch wenn der aus einem kleinen Dorf bei Heidelberg stammende junge Mann damals das Abtauchen in die Kulturen beim Kochen genoss, wollte er nach dem Abi Lehrer werden. Eigentlich sollte es fürs Studium Köln werden, aber weil es einen Kumpel nach Münster verschlug, zog er mit. Ein Segen! Denn ab Sekunde 1 wurde Joschi zum absoluten Münsterfan. („Ich bin jetzt seit zwei Jahren hier und ich möchte für immer hierbleiben“, sagt Joschi heute. „Hach“, seufzen wir in der Redaktion).

„Beim Studium auf Lehramt war ich dann ein richtiger Pandemie-Student – alles fand online statt, ich klemmte bei Zoom-Veranstaltungen hinter meinem Laptop und mir fehlte so vieles … – da kam mir meine Koch-Idee wieder in den Sinn“. Was Joschi damals Sorgen machte: „Werde ich meine Leidenschaft fürs Kochen verlieren, wenn ich das beruflich mache?“. Heute wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall.
Joschi fasste sich ein Herz, besuchte einen Berufsfindungstag beim Arbeitsamt, stieß dort auf offene Ohren und eine gute Beratung. „Und wenn ich schon mein Hochschulstudium aufgebe, dann versuche ich es auch in der gehobenen Gastronomie“, dachte der damalige Hobby-Koch bei sich.
So kam er zur Bewerbung bei Giverny – dem kleinen, anspruchsvollen, französischen Restaurant in Münsters Innenstadt: Er heuerte an – nach einem intensiven Auswahlverfahren mit Vorkochen und Mitarbeiten in der Küche. „Vom ersten Tag an war ich Feuer und Flamme“, erzählt Joschi. „Direkt in den ersten Wochen habe ich schon so viel gelernt, von dem ich noch nicht mal wusste, dass es das gibt!“.

Und was haben die Eltern gesagt? „Mein Vater ist mein größter Fan und hat mir auch mein erstes richtiges Kochmesser geschenkt“, erzählt Joschi. Dass er als Erster aus der Familie den nichtakademischen Weg einschlägt (Joschis Mutter hat Biologie studiert) spielte für die Eltern nie eine Rolle: voller Support für den Jungkoch. Mit dem zweiten Lehrjahr startete Joschi nun in einer neuen Küche: Im Zwei-Sterne-Restaurant Cœur D‘Artichaut war eine Azubi-Stelle frei – diese konnte der ambitionierte Jungkoch einfach nicht liegenlassen.
Mit einem lachenden (wegen der spannenden Aussichten) und einem weinenden Auge (weil er im Giverny schon so viel lernen durfte) wechselte er vom Spiekerhof zum Alten Fischmarkt. Was für eine Chance! „Niemals werde ich ‚ausgelernt’ sein, da wartet so viel auf mich!“, strahlt Joschi. Er ist glücklich, dass er als Teil eines sehr familiären Teams inmitten eines Dutzend Profis auf allen Positionen sein Bestes geben darf. Auch wenn das mal nur das winzigfeine Würfeln eines Riesenbergs Schalotten ist oder der sonntägliche „Deep Clean“ der Küche, wo jeder Millimeter akribisch geschrubbt wird, warten danach schon wieder Highlights der Zubereitungskunst.

darf persönlich Gänge annoncieren und mit dem letzten Schliff versehen.
Fotos: Peter Leßmann
„Ich hatte Sorge, durch die Ausbildung meine Leidenschaft fürs Kochen zu verlieren. Das Gegenteil ist der Fall.“
Aljoscha Tiné
„Mit den besten Produkten wachse ich jeden Tag über mich hinaus“, sagt Joschi. „Und dabei darf ich auch meine persönliche Leidenschaft einbringen: Etwa an in der münsterländischen Natur entdeckten wilden Feigenbäumen Blätter sammeln, diese trocknen, weiterverarbeiten und dann im Rahmen eines Sorbets an den Gast bringen. Die noch unreifen Feigen desselben Baums ernten, fermentieren, einlegen und fürs Menü weiterveredeln. Eine Idee zu in meiner Freizeit frisch gesammelten Kiefernzapfen samt Kernen habe ich auch und freue mich über das Signal meines Chefs, dass ich diese Inspiration für unsere Gäste umsetzen darf. Das ist wirklich eine besondere Form der Wertschätzung!“
Und wie sieht das aus mit dem Erwartungsdruck von Gästen und Gesellschaft, weil wir uns in der High-End-Zwei-Sterne-Gastronomie befinden? „Der Druck ist da, aber durchs Teamwork gelingt es uns, uns diesen gegenseitig zu nehmen. Alle strahlen eine konzentrierte Ruhe aus, wir helfen uns, der Work-flow ist sehr gut organisiert und professionell. Jeden Tag um Punkt 17.30 Uhr sitzen wir gemeinsam am großen Teamtisch beim Personal-Essen, auch das schweißt zusammen, wir sind wie eine große Familie.“

Für den Familiengeist sorgt auch Chefin Elisabeth Morel, die die Fäden des vielfach ausgezeichneten Restaurants zusammenhält und nicht versteht, warum viele ihrer preisgekrönten Kollegen nicht oder nur selten ausbilden. „Es ist so wichtig, den Nachwuchs zu fördern, auch um den Fortbestand der Branche zu sichern! Wir investieren hier gern auf allen Ebenen. Wir spüren, dass Joschi sich voll und ganz für diesen Beruf entschieden hat, er hängt sich in alles mit Herzblut, Leistungswillen und Begeisterung rein. Von Joschi werden wir auch in der Zukunft nach seiner Ausbildung sicher noch viel hören!“
Cœur D‘Artichaut
Avoir un Cœur D‘Artichaut bedeutet übersetzt: „Ein Herz wie eine Artischocke zu haben“. Es bezeichnet jemanden, der sich schnell verliebt, der sich immer wieder aufs Neue begeistert. Getreu diesem Motto versucht sich das Team des renommierten und mit zwei (!) MichelinSternen ausgezeichneten Restaurants am Alten Fischmarkt 11a in Münster stets weiterzuentwickeln mit der Natur als „Wirbelsäule“ – wild & kultiviert.
coeur-dartichaut.de